Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Vornahmesache. Folgenabwägung. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Nachzug von Familienangehörigen. abgeleitetes oder eigenes Aufenthaltsrecht. keine Anhaltspunkte für tatsächliche Arbeitsuche. keine Feststellung der Ausreisepflicht durch Ausländerbehörde. Gewährleistung menschenwürdiges Existenzminimum. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Auch im Rahmen sogenannter Vornahmesachen kann eine gerichtliche Entscheidung auf eine Folgenabwägung gestützt werden. Diese Vorgehensweise steht grundsätzlich neben der Möglichkeit, die Entscheidung an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten, bei der sich das Gericht im Fall drohender schwerer und unzumutbarer Eingriffen in Grundrechte mit berechtigten Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit und damit der Gültigkeit von entscheidungserheblichen Normen sowie mit den Möglichkeiten ihrer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung auseinandersetzen muss.
2. Hat das - nachgezogene - Familienmitglied eines Unionsbürgers mit einem Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche ein eigenes, nicht auf der Familienangehörigkeit (oder der Arbeitsuche) beruhendes Aufenthaltsrecht, bleibt seine Leistungsberechtigung nach dem SGB 2 unberührt.
3. Das Recht zum Aufenthalt zum Zwecke der Arbeitsuche ist kein Auffangtatbestand. Behauptet der Unionsbürger, der Zweck seiner Einreise liege in der Arbeitsuche, muss diese Arbeitsuche im tatsächlichen Verhalten des Unionsbürgers Ausdruck finden; anderenfalls läge es an ihm, durch die bloße Behauptung, er suche nach Arbeit, die Wirkungen des § 2 Abs 2 Nr 5 iVm § 4 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) für wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger zu umgehen.
4. Solange sich ein ausländischer Staatsangehöriger auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und damit im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhält, hat er in wirtschaftlichen Notlagen einen Anspruch auf materielle Unterstützung, der auf dem Grundrecht der Menschenwürde beruht.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 19. August 2013 abgeändert.
Der Antragsgegner wird für die Zeit vom 2. August 2013 bis zum 31. Dezember 2013 vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, der Antragstellerin zu 1) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von monatlich 457,00 EUR und dem Antragsteller zu 2) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von monatlich 381,00 EUR, jeweils unter Anrechnung der aufgrund des Beschlusses vom 11. September 2013 erbrachten Leistungen zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I. Die Antragsteller begehren die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).
Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1) ist die Mutter des Antragstellers zu 2) und des Antragstellers aus dem Verfahren L 2 AS 889/13 B ER, C. D. Der am 1991 geborene Antragsteller zu 2) und sein 1993 geborener Bruder reisten im Dezember 2012 aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland nach H. ein. Sie wollten dort bei ihrem Vater, D. G. , leben. Dieser hält sich seit September 2012 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Die 1969 geborene Antragstellerin, die im Jahr 2000 von D. G. geschieden wurde, reiste im Februar 2013 nach. Die Antragsteller haben kein eigenes Einkommen oder Vermögen.
Ihren vormaligen Wohnsitz in Rumänien gaben die Antragsteller endgültig auf. Seit dem 1. April 2013 leben die Antragsteller - mit Unterbrechungen - mit D. G. in einer 39,25 qm großen Wohnung in der S.-straße in H. Für die Wohnung sind monatlich 200,00 EUR Grundmiete sowie 45,00 EUR Betriebskosten- und 55,00 EUR Heizkostenvorauszahlungen zu leisten.
Die Antragstellerin zu 1) verfügt nach ihren Angaben über einen mit dem Abitur vergleichbaren Schulabschluss und hat im Anschluss daran eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Der Antragsteller zu 2) hat - ebenfalls nach eigenen Angaben - eine mit dem Realschulabschluss vergleichbare Schulausbildung.
Am 19. Juli 2013 beantragte die Antragstellerin zu 1) für sich, den Antragsteller zu 2) und C. D. die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II durch den Antragsgegner. In einem Gespräch mit dem Antragsgegner vom 30. Juli 2013 gab sie an, sie und ihre Kinder seien wegen der Familienzusammenführung und zum Zwecke der Arbeitsuche in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.
Der Antragsgegner lehnte den Antrag mit Bescheid vom 7. August 2013 für die Antragsteller ab. Hinsichtlich C. D. erklärte er, einen Leistungsanspruch erst nach Vorlage der vollständigen Antragsunterlagen von D. G. prüfen zu können. Gegen den Bescheid vom 7...