Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. kein Anspruch auf Wechsel von stationärer zu häuslicher Pflege. kein absoluter Vorrang ambulanter Leistungen. Zumutbarkeit stationärer Leistungen. unverhältnismäßige Mehrkosten. verfassungskonforme Auslegung. UNBehRÜbk

 

Orientierungssatz

1. Zur Zumutbarkeit stationärer Pflege nach § 13 Abs 1 S 3 bis 5 SGB 12.

2. Unter Berücksichtigung einer verfassungskonformen Auslegung des § 13 Abs 1 SGB 12 nach Maßgabe insbesondere der Art 2 Abs 1, 3 Abs 3 und 11 GG verbleibt ein grundsätzlicher Spielraum für eine Abwägung der Interessen des Pflegebedürftigen, sein Leben selbstbestimmt im Rahmen einer individuell gewählten pflegerischen Versorgung zu gestalten, und den Interessen der Allgemeinheit an einer wesentlich kostengünstigeren Pflege in einer anderen Wohnform.

3. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (juris: UNBehRÜbk) vermittelt keine einklagbaren Individualrechte.

 

Tenor

1. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 23. Juli 2009 wird zurückgewiesen. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

2. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt S., B. M ..., zu den Bedingungen eines am Wohnsitz der Antragstellerin ansässigen Rechtsanwaltes bewilligt.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin (Ast.) begehrt im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung der Antragsgegner (Ag.) zur (einmaligen) Zahlung von 6.057,01 EUR für eine Wohnungserstausstattung sowie zur monatlichen Zahlung von 7.078,80 EUR nebst weiteren Aufwendungen für eine Pflegekraft unter Berücksichtigung des maßgebenden Pflegegeldes.

Die am ... 1954 geborene Ast. erlernte den Beruf der Schuhfacharbeiterin und führte in ihrer letzten Erwerbstätigkeit eine Postfiliale. Sie erlitt im Oktober 1991 einen Schlaganfall mit einer arteriellen Embolie und kurz darauf einen weiteren Schlaganfall, in dessen Folge der rechte Oberarm amputiert werden musste. Seit dem 7. September 2005 besteht auf Grund eines Unfalls mit dem Rollstuhl im Straßenbereich im Übrigen ein Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma. Die Ast. ist nach der Amputation ihres rechten Oberarmes und auf Grund der Halbseitenlähmung links in ihrer Mobilität und Motorik stark eingeschränkt; ihr rechter Arm ist mit einer Prothese versorgt, ihr linker Arm gebrauchsunfähig. Anerkannt sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen "G", "H", "aG" und "B". Seit dem Jahr 2003 ist für die Ast. eine Betreuerin bestellt.

Die Pflege der Ast. wurde zunächst in ihrem Haus in L (heute M ...) im Landkreis Jerichower Land durch eine Krankenschwester (morgens), eine Hauswirtschaftshilfe (sechs Stunden täglich), ihre im Jahr 1976 geborene Tochter und ihren Ehemann sichergestellt. Am 1. Dezember 1996 wurde die Ast. vollstationär in das AWO Seniorenzentrum Z ... "H ... A. F.", einer Einrichtung mit 64 Bewohnern, aufgenommen. Sie lebt dort in einem eigenen hellen und freundlich eingerichteten Zimmer und muss sich das dazu gehörende Bad aber mit einer weiteren Heimbewohnerin teilen. Das Essen nimmt sie entsprechend dem Angebot der Einrichtung ein. An den Veranstaltungsangeboten der Einrichtung nimmt sie nur unregelmäßig teil, bewegt sich aber im näheren Umfeld der Einrichtung mit dem Rollstuhl (in den sie nur mit Hilfe von Pflegepersonal ein- bzw. aussteigen kann) bei geeignetem Wetter und nutzt in diesem Rahmen auch die von ihr ohne fremde Hilfe erreichbare behindertengerechte öffentliche Bushaltestelle. Zu ihrem Ehemann hat sie keinen, zu ihrer in B lebenden Tochter und ihren in der näheren Umgebung von Z lebenden Geschwistern nur noch selten Kontakt.

Nachdem zunächst Leistungen der Pflegekasse nach der Pflegestufe III gewährt worden waren, ergab sich nach einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Sachsen-Anhalt vom 4. Januar 2008 ein geringerer täglicher Pflegebedarf der Ast. von insgesamt 168 Minuten (76 Minuten Körperpflege, 62 Minuten Ernährung, 30 Minuten Mobilität). Ab dem 1. Juni 2008 gewährte die Pflegekasse der Ast. nur noch Leistungen nach der Pflegestufe II.

Nachdem sie sich hierum bereits im Jahr 2002 bemüht hatte, beantragte die Ast. am 31. März 2008 bei dem Ag. zu 1) "ein selbstbestimmtes Leben". Seit sie festgestellt habe, dass ihr Ehemann "ein Verhältnis" mit ihrer Pflegerin habe, bestehe kein Kontakt mehr zu ihm. Sie sei auf Grund der Situation total am Ende und habe Depressionen, Schlafstörungen, Ängste, sei launisch und fühle sich betrogen und verlassen. Im Heim sei die Grundversorgung zwar abgesichert, es gebe für sie aber keine Beschäftigungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten. Sie habe keinen Kontakt zu den anderen Heimbewohnern, die Pflegekräfte hätten keine Zeit für eine Unterhaltung oder extra Handreichungen. Im Übrigen schilderte sie ihren täglich wiederkehrenden Tagesablauf. Auf die Aufforderung des Ag. zu 1) von April 2008, Ausführungen...

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