Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende: Voraussetzung der rückwirkenden Aufhebung einer Bewilligung von Grundsicherungsleistungen wegen fehlenden Bedarfs. Beweislast für die ursprüngliche Rechtswidrigkeit einer Leistungsgewährung. Umfang der Ermittlung und Darlegungspflicht eines Sozialleistungsträgers bei der rückwirkenden Leistungsaufhebung
Orientierungssatz
1. Im Falle der Rücknahme eines begünstigenden Sozialverwaltungaktes wegen Rechtswidrigkeit gemäß § 45 SGB 10 trägt die Behörde die Beweislast für die ursprüngliche Rechtswidrigkeit.
2. Will eine Behörde einen Bescheid über die Gewährung von Grundsicherungsleistungen wegen angeblicher Erzielung von Einkommen im Bewilligungszeitraum nachträglich vollständig zurücknehmen, muss feststehen, dass der Leistungsempfänger im gesamten Bewilligungszeitraum über Einkommen oder Vermögen verfügte, das einen Leistungsanspruch vollständig ausschloss. Dazu bedarf es konkreter Feststellungen zur Art und Höhe dieser Einkünfte. Allein eine Vermutung der fehlenden Hilfsbedürftigkeit genügt dagegen nicht.
3. Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gemäß § 39 SGB 2 gegen einen Bescheid, mit dem Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende aufgehoben werden, greift nicht bezüglich der in einem Bescheid angeordneten Erstattung bereits gezahlter Leistungen.
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 27. Mai 2011 wird geändert: Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Erstattungsforderung im Bescheid des Antragsgegners vom 3. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5. Juli 2010 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 15. Dezember 2010 und 9. September 2011 wird aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (Az.: S 3 AS 2265/10) gegen den Bescheid insgesamt angeordnet. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens und des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller und Beschwerdeführer begehrt die Anordnung bzw. Feststellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen einen Rücknahme- und Erstattungsbescheid des Antrags- und Beschwerdegegners und Vollzugsfolgenbeseitigung.
Der Antragsteller bezog vom Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Dieser hob mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 3. Juni 2010 die Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 1. April 2007 bis zum 31. März 2010 insgesamt auf und forderte den Antragsteller zur Rückzahlung von Regelleistungen iHv 6.556,00 EUR und von Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) iHv von 6.874,96 EUR auf.
Unter dem 3. Juni 2010 versandte die Abteilung Forderungsmanagement der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit (BA) eine Zahlungsaufforderung an den Antragsteller, mit der u.a. die vorgenannten Rückzahlungsbeträge zum 20. Juli 2010 fällig gestellt wurden. Mit mehreren Schreiben vom 16. Juni 2010 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller Änderungen zum "Nachweis über beitragspflichtige Einnahmen zur gesetzlichen Rentenversicherung" mit. Diese seien beispielsweise für die Zeiträume vom 1. Januar 2008 bis zum 29. Februar 2008 und vom 1. Mai bis zum 31. August 2008 der Deutschen Rentenversicherung Bund nunmehr mit "0,00 EUR" gemeldet worden. Zuvor erteilte Leistungsnachweise würden dadurch nachträglich geändert.
Den gegen den Bescheid mit Schreiben vom 5. Juni 2010 eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2010 zurück. Der Antragsteller hat am 15. Juli 2010 Klage beim Sozialgericht Magdeburg (SG) erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 3 AS 2265/10 anhängig ist.
Am 3. Dezember 2010 hat der Antragsteller beim SG um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und beantragt, "im Wege der Einstweiligen Anordnung festzustellen, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, die aufschiebende Wirkung der Klage zu beachten und dem zuwider handelt". Zur Begründung hat er ausgeführt, der Antragsgegner missachte die aufschiebende Wirkung der Klage, indem er für den Zeitraum der Aufhebung der Bewilligung schon geleistete Krankensicherungsbeiträge zurückgebucht und damit gegenüber dem Krankenversicherungsträger den Eindruck vermittelt habe, er habe keine SGB II-Leistungen bezogen. Mit beigefügtem Schreiben hat die AOK Sachsen-Anhalt den Antragsteller unter dem 2. November 2010 zur beabsichtigten Rückforderung von im April 2010 erbrachten Leistungen iHv 54,64 EUR angehört und ausgeführt, im Rahmen der Prüfung von Mitgliedschaften seien fehlende Versicherungszeiten des Antragstellers vom 23. März 2007 bis zum 30. April 2010 festgestellt worden.
Mit Bescheid vom 15. Dezember 2010 hat der Antragsgegner den Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 3. Juni 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids geändert und nunmehr eine Erstattung von insgesam...