Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. fehlendes materielles Freizügigkeitsrecht. Nichterfüllung der Anforderungen an eine selbstständige Erwerbstätigkeit. Sozialhilfeanspruch im Wege der Ermessensausübung. beschränkte Leistungshöhe analog § 1a AsylbLG. Ernsthafte Ausübung eines Gewerbes. Verfestigung des Aufenthalts. Ermessensreduzierung auf Null. Einstweilige Anordnung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine selbständige Tätigkeit ohne ernsthaft beabsichtigte Marktteilnahme und damit ohne wirtschaftliche Relevanz führt nicht zur gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsberechtigung als niedergelassener selbständiger Erwerbstätiger.
2. Die im Ermessen des Trägers der Leistungen der Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer stehende Leistungsgewährung folgt im Grundsatz einer zeitlichen Abstufung. Ebenso wie die Dauer des Aufenthalts (ab dem siebten Monat) regelmäßig zu einer Ermessenreduzierung auf Null hinsichtlich des "Ob" und der Höhe der Leistungsgewährung führen kann, kann die in § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II ausdrücklich formulierte gesetzgeberische Entscheidung gegen einen Leistungsanspruch (für die ersten drei Monate) sprechen. In der Zwischenphase (Monate vier bis sechs) hat der Träger hinsichtlich des "Ob" und der Höhe der Leistungsgewährung nach pflichtgemäßem (freiem) Ermessen zu entscheiden. Insoweit kann auch eine Leistungsgewährung in Betracht gezogen werden, die der Höhe nach derjenigen bei Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 1 oder Abs 2 AsylbLG entspricht.
3. Eine Ermessensreduzierung auf Null nach sechs Monaten hinsichtlich des "Ob" und der Höhe der Leistungen schließt nicht aus, dass der Träger der Leistungen der Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer ohne eine solche Bindung über die Modalitäten der Leistungsgewährung entscheidet.
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2; SGB XII § 23 Abs. 1 S. 3, Abs. 3 S. 1, § 82 Abs. 1 S. 3; AsylbLG § 1a Abs. 3 S. 1; SGG § 86b Abs. 2
Tenor
Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 8. April 2016 wird abgeändert.
Die Beigeladene wird verpflichtet, bis zum 14. Juni 2016 über den Antrag der Antragsteller auf existenzsichernde Leistungen vom 25. Januar 2016 für die Zeit ab dem 17. März bis zum 14. April 2016 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts vorläufig zu entscheiden sowie den Antragstellern für die Zeit vom 15. April bis zum 30. Juni 2016 vorläufig und unverzüglich Leistungen der Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer in gesetzlicher Höhe zu gewähren, wobei sie über die Modalitäten der Leistungsgewährung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Beigeladene hat ¾ der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung darüber, ob die Antragsteller auf einen Leistungsantrag vom 25. Januar 2016 hin Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts haben und, falls dies bejaht wird, der Antragsgegner als die in H. zur einheitlichen Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende gebildete gemeinsame Einrichtung oder der beigeladene örtliche Träger der Sozialhilfe den Antragstellern vorläufig existenzsichernde Leistungen zu erbringen hat.
Die Antragsteller sind rumänische Staatsangehörige. Nach ihrem Vortrag sind sie im Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.
Die 1980 geborene Antragstellerin zu 1) und der 1977 geborene Antragsteller zu 2) sind nicht miteinander verheiratet. Sie haben ein gemeinsames Kind, die am ... 2005 geborenen Antragstellerin zu 3), die nicht zur Schule geht. Am 15. Oktober 2015 meldeten sie bei der Stadt H., Fachbereich Einwohnerwesen, den Einzug in die O-straße in H. Die Anschrift einer bisherigen Wohnung ist in der Anmeldebestätigung nicht vermerkt.
Am 22. Oktober 2015 beantragten die Antragsteller die Zahlung von Kindergeld für den Antragsteller zu 3). Die Bewilligung erfolgte durch Bescheid der Familienkasse Sachsen-Anhalt - Thüringen vom 9. November 2015.
Am 25. Januar 2016 beantragten die Antragsteller die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) durch den Antragsgegner. Nach ihren Angaben in den Antragsformularen waren sie innerhalb der letzten fünf Jahr vor der Antragstellung nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Antragsteller legten einen Mietvertrag für eine 66 qm große Wohnung in der O-straße in H. vor. Nach diesem Mietvertrag sind ab dem 15. Oktober 2015 monatliche Zahlungen von 389 EUR Grundmiete, 51 EUR Vorauszahlungen für Betriebskosten und 62 EUR Vorauszahlungen für Heizkosten vereinbart. Die Antragsteller reichten zwei Quittungen ein, aus denen die Barzahlung von 1.230 EUR mit der Angabe "OF 9 Whg 103 Miet ½ 10/11/12" durch die Antragstellerin zu 1) am 15. Oktober 2015 und 527 EUR mit der Angabe "O-str. Whg Nr. "...