Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts. zuständige Behörde. Grundsicherung für Arbeitsuchende. örtliche Zuständigkeit des Grundsicherungsträgers als Anspruchsvoraussetzung. gewöhnlicher Aufenthalt
Leitsatz (amtlich)
1. § 36 SGB 2 ist nicht nur eine Ordnungsvorschrift, sondern gehört zu den Anspruchsvoraussetzungen im engeren Sinne. Erfolgt die Antragstellung bei einem örtlich unzuständigen Leistungsträger, kann dieser unter Hinweis auf die örtliche Unzuständigkeit nach § 36 SGB 2 die Gewährung von SGB 2-Leistungen ablehnen.
2. Eine Leistungsgewährung unter Verstoß gegen § 36 SGB 2 ist rechtswidrig und kann unter den Voraussetzungen der §§ 45ff SGB 10 korrigiert werden. Der Aufhebung des rechtswidrigen Bewilligungsbescheids steht § 42 SGB 10 nicht entgegen, weil § 36 SGB 2 nicht nur eine Formvorschrift ist.
3. Hat ein Leistungsberechtigter mehrere Wohnsitze, sind diese bei Stellung des SGB 2-Leistungsantrags anzugeben. Das Unterlassen der Angabe führt dazu, das die leistungserheblichen Tatsachen nicht vollständig erklärt sind.
Orientierungssatz
1. Die Behörde, die einen unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakt erlassen hat, ist für dessen Beseitigung gem § 44 Abs 3 SGB 10 nicht mehr zuständig, wenn sie entweder zu keinem Zeitpunkt zuständig war oder ihre Zuständigkeit im Zeitpunkt der Entscheidung über die Korrektur des Verwaltungsakts nicht mehr gegeben ist (vgl BSG vom 9.6.1999 - B 6 KA 70/98 R = SozR 3-2500 § 95 Nr 20, vom 16.5.1995 - 9 RV 1/94 = SozR 3-3200 § 88 Nr 1 und vom 17.7.1985 - 1 RA 35/84 = SozR 1500 § 77 Nr 61 sowie LSG Stuttgart vom 15.5.2002 - L 2 RJ 4080/98).
2. Zur Beantwortung der Frage, wo jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt iS des § 36 SGB 2 hat, kann auf die Legaldefinition des § 30 Abs 3 S 2 SGB 1 zurückgegriffen werden. Der gewöhnliche Aufenthalt ist vom tatsächlichen oder nur vorübergehenden Aufenthalt abzugrenzen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin und Berufungsklägerin wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Rechtsvorgängerin des Beklagten, der Jobcenter Arbeitsgemeinschaft M. GmbH (im Weiteren: Arge).
Die am ... 1981 geborene Klägerin ist ukrainische Staatsangehörige und besitzt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland. Sie besuchte von September 2001 bis Mitte 2004 eine Schule in A. und machte das Abitur. Nach dem Bezug von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz bis zum 31. Juli 2004 erhielt sie seit dem 1. August 2004 von der Landeshauptstadt M. laufende Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG).
Am 1. September 2004 stellte sie bei der Arge einen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Im Antrag gab sie an, sie wohne in der E. Straße ... in ... M ... Als Bankverbindung gab sie ein Konto bei der Stadtsparkasse M. an. Kontoinhaber seien sie und ihre Mutter. Sie sei bei der AOK Sachsen-Anhalt pflichtversichert und beziehe derzeit Sozialhilfeleistungen. Sie wohne zusammen in einem Haushalt mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter, die dann am ... 2004 starb. Gemeinsam bewohnten sie eine 68 qm große Wohnung, für die eine Gesamtmiete von 468,34 EUR/Mt. zu zahlen sei. Ihre Mutter beziehe ebenfalls Sozialhilfeleistungen und Wohngeld. Außer einem geringen Guthaben auf dem benannten Girokonto besitze sie keine Vermögenswerte. Nach dem Mietvertrag waren die Klägerin, ihre Mutter und die Großmutter Hauptmieter der seit dem Jahr 1998 gemieteten Wohnung.
Mit Bescheid vom 6. Dezember 2004 bewilligte die Arge für den Bewilligungszeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2005 monatliche Leistungen iHv 559,13 EUR (Regelleistung: 331,00 EUR, KdU: 128,13 EUR; entspricht den hälftigen Mietkosten, wobei der Heizkostenabschlag iHv 67,00 EUR um 18 % gemindert wurde).
Mit Schreiben vom 14. Januar 2005 lud die Arge die Klägerin am 20. Januar 2005 zu einer Informationsveranstaltung ein. Diese teilte telefonisch am 20. Januar 2005 mit, sie befinde sich z.Zt. in A. bzw. M. und suche einen Praktikumsplatz. Sie könne nicht sagen, wann sie nach M. zurückkehre.
Am 8. Februar 2005 sprach die Klägerin bei der Arge vor. Hierüber wurde folgender Vermerk gefertigt:
"p. Vspr., stellt sich ab sofort wieder zur Verfügung. Ausführlich örtl. Zuständigkeit nach § 36 SGB II erläutert. War bisher auf Suche nach Praktikumsplatz in Bayern, da ab WS 05 Studium Bioingenieurwesen in M. geplant. Soll in A. Antrag auf Alg II stellen, da dort MdE. gewöhnlicher Aufenthalt vorrangig. Kundin nochmals auf Sanktionserwartung hingewiesen bei Ablehnung von TM‚s oder Maßnahmen mit Mehraufwandsentschädigung. Urlaub vom 140205 - 060205 zugestimmt, Termin zur BewA-Überarbeitung schr. Ausgehändigt ( H ...)"
Unter dem 4. März 2005 fertigte dieselbe Sachbearbeiterin ...