Rechtskraft

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Sexueller Missbrauch. Vater. Minderjährige. Opferentschädigung. Antrag. Rückwirkung. Verhinderung. Verlängerung. Frist. Handlungsfähigkeit. gesetzlicher Vertreter. Zurechenbarkeit. Verschulden. Unkenntnis. Zeugnisverweigerungsrecht. Interessenkonflikt

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein minderjähriges Opfer eines sexuellen Missbrauchs, das einen Antrag auf Opferentschädigung nicht innerhalb eines Jahres nach der Schädigung stellt, ist bis zum Eintritt der Volljährigkeit ohne sein Verschulden an der Antragstellung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG verhindert, mit der Folge, dass – bei Nachweis der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen – rückwirkende Versorgungsansprüche bestehen.

2. Die sozialrechtliche Handlungsfähigkeit Minderjähriger nach § 36 Abs. 1 SGB I wirkt sich lediglich rechtlich vorteilhaft aus, so dass sie im Rahmen eines bei dem Minderjährigen zu beurteilenden Verschuldens bei einer verspäteten Antragstellung nicht berücksichtigt werden darf.

3. Versäumt der gesetzliche Vertreter des minderjährigen, geschädigten Opfers pflichtwidrig die rechtzeitige Antragstellung, dann wird dies dem Opfer nicht zugerechnet, wenn der Vertreter in einem ihn belastenden Konflikt zwischen den Interessen des Täters und den Belangen des Opfers steht und diese Konfliktlage durch die Rechtsordnung z.B. durch eine Zeugnisverweigerungsrecht geschützt wird. Wird das Vertretungsverhältnis von einer solchen Konfliktlage überlagert, dann kommt es auf eine behauptete Unkenntnis des Vertreters über die Möglichkeit einer Beantragung von Entschädigungsansprüchen für den Vertretenen ebenso wenig an, wie auf den Vortrag des Vertreter, er habe die schädigende Gewalttat nicht geglaubt.

 

Normenkette

OEG § 1; BVG § 60 Abs. 1; SGB I § 36; SGB X § 27 Abs. 1 S. 2; BGB § 278

 

Verfahrensgang

SG Halle (Saale) (Entscheidung vom 08.10.2002; Aktenzeichen S 1 (4) VG 13/02)

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 28.04.2005; Aktenzeichen B 9a/9 VG 1/04 R)

BSG (Aktenzeichen B 9 VG 1/04 R)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 8. Oktober 2002 wird aufgehoben und der Bescheid vom 24. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2002 abgeändert und der Beklagte verurteilt, der Klägerin auch für den Zeitraum vom 1. Februar 1998 bis 31. März 2000 eine Grundrente nach einer MdE um 60 v. H. zu gewähren.

Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über den Beginn einer Grundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Die am … 1983 geborene Klägerin ist über mehrere Jahre hinweg von ihrem 1955 geborenen Stiefvater sexuell schwer missbraucht worden.

Aus den vom Beklagten beigezogenen staatsanwaltlichen Akten sowie den Aussagen der Mutter der Klägerin und Ehefrau des Täters, der Zeugin R. F. (geb. 1963), vor dem Senat ergibt sich folgender Sachverhalt:

Die Klägerin lebte mit ihrer Mutter, den Geschwistern und dem Stiefvater gemeinsam in einem Haushalt. Nachdem ihr Stiefvater sie am 3. Februar 1998 zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte, suchte sie aus eigenem Antrieb am 4. Februar 1998 das Kinder- und Jugendheim auf, das sie von einem früheren Aufenthalt kannte. Seitdem lebt sie dort. Unmittelbar danach konfrontierten die Mitarbeiter des Jugendamtes im Beisein der Klägerin die Mutter mit deren Vorwürfen. Eine gemeinsame Aufnahme in einem Frauenhaus lehnte die Mutter ab, weil sie den Vorwürfen ihrer Tochter keinen Glauben schenkte. Gemeinsam mit Mitarbeitern des Jugendamtes stellten sie auch den Stiefvater zur Rede, der die Anschuldigungen, er habe sich an der Klägerin sexuell vergangen, abstritt. Zusammen mit einer Fürsorgerin des Jugendamtes und ihrer Mutter suchte die Klägerin am 11. Februar 1998 den Frauenarzt Dr. E. auf, der feststellte, dass zwar keine Verletzungen vorlägen, der intakte Hymen und die Scheide aber sehr weit seien, so dass ein Geschlechtsverkehr möglich sei. Die Klägerin blieb daraufhin im Kinderheim, wobei sich die Integration zunächst als schwierig erwies, da sie Freß-Brech-Anfälle hatte. Sie hatte keinen Kontakt zu ihrer Mutter, die zunächst weiter mit dem Stiefvater und dem Rest der Familie zusammenlebte. Eine Strafanzeige wurde von niemandem gestellt.

Im Dezember 1998 kam es gegen einen anderen Mann, den K.-H. S. zu einem Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs der Klägerin. In ihrer Vernehmung äußerte diese gegenüber der ermittelnden Kriminalbeamtin, sie sei auch von ihrem Stiefvater missbraucht worden. Die Kriminalbeamtin stellte daraufhin am 9. Dezember 1998 eine Strafanzeige gegen den Stiefvater. Bei der weiteren polizeilichen Vernehmung sagte die Klägerin aus, ihr Stiefvater habe sie schon, als sie erst 4 Jahre alt gewesen sei, am Geschlechtsteil angefasst und sich in ihrem Beisein und mit ihrem erzwungenen Mitwirken selbst befriedigt. Er habe sich immer wieder an ihr vergriffen, manchmal alle zwei Tage, dann täglich und manchmal einmal in der Woche...

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