Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. angemessene Unterkunftskosten. schlüssiges Konzept des Grundsicherungsträgers. Vergleichsraumbildung. Landkreis Wittenberg. Datenerhebung. unteres Wohnungsmarktsegment. Nachfrageanalyse. Perzentilwert. Differenzierung nach der Größe der Bedarfsgemeinschaft. unzureichende Daten zur Verfügbarkeit von Wohnraum für bestimmte Wohnungsgrößenklassen. Erforderlichkeit einer Regelung zur Einzelfallprüfung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Gebiet des Landkreises Wittenberg stellt im Rahmen der Anwendung von § 22 Abs 1 SGB II keinen einheitlichen Vergleichsraum dar. Das Kreisgebiet unterfällt in die Vergleichsräume Lutherstadt Wittenberg und "Übriger Landkreis", sodass der Landkreis Wittenberg aus zwei Vergleichsräumen besteht.

2. Für den Vergleichsraum Lutherstadt Wittenberg ergibt sich nach den Ermittlungen des Senats als Angemessenheitswert für einen Zweipersonenhaushalt eine Bruttokaltmiete von 316,20 €.

3. Um bei einem sog schlüssigen Konzept nach Vollerhebung des Wohnungsmarktes eine zutreffende Ableitung für das untere Wohnungsmarktsegment vornehmen zu können, ist eine nach der Größe der Bedarfsgemeinschaften differenzierte Nachfrageanalyse zu erstellen. Folgt daraus für Ein- und Fünfpersonenhaushalte ein Nachfrageranteil von 38 bzw 39 %, der deutlich über dem Durchschnitt (25 bis 30 %) liegt, reicht es nicht aus, einen Perzentilwert von 40 für diese Wohnungsgrößen zugrunde zu legen.

4. Der kommunale Träger muss in die Angemessenheitsrichtlinie eine entsprechende Regelung aufnehmen, wenn der Konzeptersteller in der Mietwerterhebung bei bestimmten Wohnungsgrößenklassen festgestellt hat, dass aufgrund einer zu geringen Anzahl von Angebotsmieten ein Abgleich der Verfügbarkeit von Wohnungen auf dem aktuellen Mietwohnungsmarkt zum ermittelten Bestandsmietenwert als Angemessenheitswert nicht möglich und daher über die Angemessenheit der Unterkunftskosten nach Einzelfallprüfung zu entscheiden ist. Trifft der kommunale Träger keine entsprechende Regelung, ist die Verwaltungsvorschrift insoweit rechtswidrig und der für die betroffene Wohnungsgröße festgelegte Angemessenheitswert beruht nicht auf einem schlüssigen Konzept.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 13.07.2020; Aktenzeichen B 14 AS 87/19 B)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 16. November 2015 wird aufgehoben, soweit den Klägern für Juni 2012 weitere Leistungen zuerkannt worden sind. Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägern die notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Klage- und Berufungsverfahren zu drei Vierteln zu erstatten; die Regelung für das Widerspruchsverfahren bleibt hiervon unberührt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Umstritten sind Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Grundsicherung für Arbeitsuchende - SGB II) für die Zeit vom 1. März bis zum 30. Juni 2012. Streitig ist insbesondere die Begrenzung der Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) auf einen angemessenen Wert nach einem Umzug.

Die am 11. September 1990 geborene Klägerin und Berufungsbeklagte zu 1. (im Folgenden: Klägerin) hatte zum 1. September 2010 eine Ausbildung als Frisörin aufgenommen, für welche sie Berufsausbildungsbeihilfe bezog. Sie lebte ab dem 15. November 2011 zusammen mit ihrem Partner, ihrem heutigen Ehemann, in einer Wohnung in der R. Straße ... in L ... Mit Bescheid vom 31. Mai 2011 bewilligte der Beklagte und Berufungskläger (im Folgenden: Beklagter) der damals schwangeren Klägerin eine Erstausstattung für Mobiliar bei Geburt eines Kindes und eine Erstausstattung für Bekleidung bei Schwangerschaft und Geburt. Mit Bescheiden vom 16. Juni 2011 bewilligte er ihr einen Mehrbedarf wegen Schwangerschaft und einen Zuschuss zu den ungedeckten KdUH für den Zeitraum vom 1. Mai bis zum 31. August 2011.

Nach Trennung von ihrem Partner schloss die Klägerin am 6. Mai 2011 einen Mietvertrag über eine Mietwohnung in der Straße der V ... in L. mit einer Wohnfläche von 57,31 m² mit Mietbeginn am 1. Juli 2011 ab. Hierfür hatte sie eine monatliche Gesamtmiete von 424,78 EUR zu zahlen, wovon 293,78 EUR auf die Grundmiete, 73 EUR auf die Vorauszahlung für Betriebskosten und 58 EUR auf die Vorauszahlung für Heizkosten und Warmwasser entfielen. Zusätzlich hatte sie 10 EUR Kabelgebühr zu entrichten. Eine Zusicherung über die Übernahme der Mietkosten der neuen Unterkunft hatte die Klägerin vor Abschluss des Mietvertrags vom Beklagten nicht eingeholt.

Am 31. August 2011 brach die Klägerin die Ausbildung wegen Schwangerschaft ab.

Mit Bescheid vom 6. Oktober 2011 gewährte der Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 1. September 2011 bis zum 29. Februar 2012 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Seiner Leistungsberechnung legte er die seiner Ansicht nach für eine Person angemessene Bruttokaltmiete (BKM) von 273,50 EUR sowie Heizkosten von 47,56 EUR zugrunde. Der Bescheid enthielt den Hinweis: "Sie sind ohne meine Zust...

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