Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. rückwirkende GdB-Feststellung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. Morbus Crohn. keine Berücksichtigung einer zukünftigen Verwendungsprognose im Polizeidienst

 

Leitsatz (amtlich)

1. Für eine rückwirkende Feststellung des GdB muss ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht werden. Ob ein beabsichtigtes Wiederaufgreifen eines Verwaltungsverfahrens genügt, das zur Entlassung aus dem Beamtenverhältnis geführt hat, kann dahingestellt bleiben, wenn die Klage nach medizinischen Ermittlungen unbegründet ist.

2. Allein aus dem Umstand, dass ein Kläger aufgrund eines amtsärztlichen Gutachtens aus einem Beschäftigungsverhältnis entlassen wurde, kann kein Rückschluss auf die Schwere der Erkrankung (hier Morbus Crohn) und den vorliegenden GdB gezogen werden.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 27.11.2020; Aktenzeichen B 9 SB 29/20 B)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt einen Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 30 ab dem 15. April 1996.

Der am ... 1970 geborene Kläger beantragte rückwirkend ab dem 15. April 1996 am 30. Mai 2012 die Feststellung von Behinderungen aufgrund einer Erkrankung an Morbus Crohn. Er machte geltend, aufgrund dieser Diagnose sei er nach Erstellung eines amtsärztlichen Gutachtens mit Verfügung des Landeskriminalamtes Sachsen-Anhalt vom 23. Mai 1996 aus dem Beamtenverhältnis entlassen worden. Durch die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft möchte er ein Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens erreichen. In den von ihm geführten verwaltungsgerichtlichen Verfahren seien das Verwaltungsgericht M. und das Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt zu dem Ergebnis gekommen, dass es keiner weiteren Ermittlungen über das Vorliegen der Erkrankung bedürfe. Das amtsärztliche Gutachten sei daher nicht in Frage zu stellen.

Mit Bescheid vom 17. Oktober 2012 lehnte der Beklagte die Feststellung von Behinderungen ab, da keine konkreten Befunde hätten beigezogen werden können. Dagegen legte der Kläger am 22. Oktober 2012 Widerspruch ein.

Der Beklagte zog daraufhin vom polizeiärztlichen Zentrum medizinische Unterlagen über den Kläger bei. Nach dem Bericht von Dr. S. vom 29. März 1996 sei computertomografisch am ehesten von einer Enteritis regionalis Crohn im terminalen Ileum auszugehen. Unter dem 1. April 1996 berichtete der Facharzt für Radiologie Dr. F., dass der Röntgenbefund einen ausgeprägten Morbus Crohn von Ileum und Colon mit teilweisen Verwachsungen und Verklebungen zeige. Die Fachärztin für Innere Medizin, Hämatologie, Onkologie Dr. U. diagnostizierte am 10. April 1996 einen Morbus Crohn und schilderte, dass es dem Kläger subjektiv gut gehe. Er fühle sich voll leistungsfähig und befinde sich in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand. Durchfälle habe er nicht mehr angegeben. Nur gelegentlich bestehe ein Druckgefühl am Nabel. Nach anamnestischen Angaben müsse der Beginn der Erkrankung im November 1994 gesehen werden. Die pathologischen Laborwerte seien als Aktivitätszeichen zu werten.

In einem polizeiärztlichen Gutachten gab die Fachärztin für Innere Medizin Dr. M. unter dem 19. April 1996 an, dass der Kläger sich in einem ausreichenden Allgemein- und Ernährungszustand befinde. Bei einer Größe von 1,75 m habe er 73,5 kg gewogen. Dr. M. diagnostizierte einen ausgeprägten Morbus Crohn von Ileum und Colon mit Aktivitätszeichen. Teilweise Verwachsungen und Verklebungen seine als Komplikationen zu werten. Dr. M. zitierte einen Arztbrief von Dr. S. vom 28. März 1995, wonach die rezidivierenden, insbesondere morgendlichen Durchfälle mit der Verordnung von Medikamenten behandelt worden seien. Abdominelle Schmerzzustände habe der Kläger ab dem 6. Februar 1995 nach Ende der Therapie nicht mehr angegeben.

In einer Begründung zum polizeiärztlichen Gutachten führte Dr. M. am 22. Mai 1996 aus: Sie habe auf Veranlassung des Landeskriminalamts im November 1994 mit der polizeiärztlichen Untersuchung des Klägers vor Beendigung der Probezeit begonnen. Dabei seien krankhafte Laborbefunde aufgefallen. Sie habe dem Kläger eine Frist zur Abklärung gesetzt. Nach Ablauf der Frist habe er mitgeteilt, es gehe ihm gut. Eine weitere internistische Abklärung habe er nicht vornehmen lassen. Er befinde sich wegen anderer Symptome in ärztlicher Betreuung und nehme Medikamente ein. Sie habe dagegen unverändert krankhafte Laborbefunde mit eindeutiger Verschlechterungstendenz festgestellt, die auf einen chronischen Entzündungsprozess oder auf ein immunologisches Geschehen hindeuteten. Sie habe den Kläger auf die Notwendigkeit einer weiteren diagnostischen Abklärung hingewiesen. Diese habe er wegen Wohlbefindens abgelehnt. Er sei jedoch bereit gewesen, sich einer erneuten ambulanten internistischen Abklärung zu unterziehen. Im Ergebnis dieser Untersuchungen sei im April 1996 eine chronisch entzündliche Darmerkrankung mit Komplikationen und Aktivitätszeichen festgestellt worden. Im Hinblick auf die Polizeidienstfähigkeit gehe sie davon aus, dass eine chronisch-entzündliche...

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