Entscheidungsstichwort (Thema)
Aberkennung von Witwenentschädigungsrente wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit. langjähriger operativer Mitarbeiter im Ministerium für Staatssicherheit
Orientierungssatz
1. Das Verhalten eines "Verstoßes" gegen die Schutzgüter des § 5 Abs 1 EntschRG setzt ein konkretes, räumlich und zeitlich eingegrenztes Verhalten, das einem Beweis zugänglich ist, voraus, das den Erfolg gefördert hat. In dieser Konkretisierung entspricht die Vorschrift auch dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot (vgl BSG vom 30.1.1997 - 4 RA 33/95 = SozR 3-8850 § 3 Nr 1).
2. Der Nachweis solcher Verstöße gegen die Schutzgüter des § 5 Abs 1 EntschRG erfordert keine Benennung eines punktuellen Einzelverhaltens mit der im Einzelfall zuzuordnende Folge einer Rechtsgutsverletzung bei einer bestimmten Einzelperson. Entscheidend ist der notwendige Beitrag der Tätigkeit eines Mitarbeiters des Ministeriums für Staatssicherheit für die Einschüchterungswirkung, die gerade der Erfolg dieser Tätigkeit ist. Denn in der konkreten täglichen Angst, dem unter Druck geübten Verzicht auf eine offene Meinungsäußerung oder die Verfolgung von Ausreiseplänen liegt entscheidend die Schutzgutverletzung der Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit. Dieser Erfolg besteht nicht nur aus den Verhaftungen, Schlägen und Eingriffen in die Lebensführung bei ermittelten Oppositionellen. Vielmehr besteht er überwiegend in der aufgezwungenen Zurückhaltung der Mehrheit der Menschen in der DDR gegenüber einer Bespitzelung, deren Opfer man jederzeit sein kann.
3. Eine geäußerte Meinung oder die Befürchtung einer Meinungsäußerung, die versuchte Ausreise aus der DDR in bestimmte Länder oder die Befürchtung eines solchen Ausreiseversuchs, also Umstände, die in der DDR strafbares Unrecht darstellen konnten (BSG vom 24.3.1998 - B 4 RA 78/96 R = SozR 3-8850 § 5 Nr 3) sind Bestandteil der Rechtsgüter im Rahmen der Menschlichkeit, die nicht ohne eine Abwägung mit Einzelrechten anderer allein aufgrund eines Staatszwecks entzogen werden dürfen.
4. Durch die Methoden der operativen Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit werden auch die Schutzgüter des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit verletzt, weil ihr verhältnismäßiger Einsatz nicht gewahrt werden kann (zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit BSG vom 24.3.1998 - B 4 RA 78/96 R = SozR 3-8850 § 5 Nr 3). Denn obwohl bereits die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten die Verfolgung durch solche Methoden auslösen konnte, bestand für den Betroffenen keinerlei Möglichkeit, eine Kontrolle der gegen ihn gerichteten geheimdienstlichen Maßnahmen herbeizuführen, die er ihrer Natur nach im einzelnen schon gar nicht erkennen konnte.
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Entziehung einer Witwenentschädigungsrente.
Die im August ... geborene Klägerin war mit dem im Dezember ... geborenen ... bis zu dessen Tod verheiratet. Der Ehemann der Klägerin gehörte seit 1932 der KPD an und wurde unter der Herrschaft der NSDAP verfolgt. Nach seinem Personalblatt befand er sich zwischen 1934 und 1937 im Konzentrationslager ... und im Zuchthaus ... 1939/40 wurde er im Konzentrationslager ... festgehalten und befand sich von 1941 bis zum Kriegsende als Dienstverpflichteter in einem Straflager. Vom Juni 1946 an gehörte der Ehemann der Klägerin der Volkspolizei an und wechselte zum 1. Oktober 1949 in den Dienst der Staatssicherheitsorgane der Deutschen Demokratischen Republik, die später als Ministerium für Staatssicherheit organisiert waren. Dort war er -- seit März 1953 im Range eines Majors -- Leiter verschiedener Kreisdirektionen und seit 1957 Leiter der Objektdienststelle des ... Werkes, eines Großbetriebes der Chemieindustrie. Seit dem 1. November 1970 war er im Büro der Leitung der Bezirksverwaltung H tätig und wurde mit Ablauf des Jahres 1971 als Invalide aus dem Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit entlassen. Der Ehemann der Klägerin bezog eine Ehrenpension als Kämpfer gegen den Faschismus. Nach seinem Tod erhielt die Klägerin schließlich eine Entschädigungsrente für arbeitsunfähige Witwen von 800,-- DM monatlich.
Die Beigeladene zu 2. nahm im Januar 1996 Ermittlungen zum Tätigkeitsbereich des Ehemannes der Klägerin auf und zog verschiedene Richtlinien zur operativen Tätigkeit im Ministerium für Staatssicherheit sowie eine Beurteilung über den Ehemann der Klägerin vom 12. Dezember 1966 bei. Nach der Beurteilung hatte der Ehemann der Klägerin sich in seiner langjährigen Dienstzeit umfangreiche Erfahrungen in der politisch-operativen Arbeit sowie in der Führungs- und Leitungstätigkeit angeeignet. Er habe die ihm übertragenen verantwortlichen Aufgaben pflichtbewusst und diszipliniert durchgeführt. Bemängelt wurde sein nicht mehr den aktuellen Anforderungen entsprechender Bildungsstand. Durch fehlende tiefgründige theoretische Kenntnisse in der politisch-oper...