Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherung. Theorie der wesentlichen Bedingung. Gelegenheitsursache. Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. Gesundheitsstörung. Kausalität. wesentliche Bedingung. Vorschaden. Alltagsbelastung. Prognose. Sturz. Zahnverlust. ausgeprägte Paradontitis
Leitsatz (amtlich)
1. Um der versicherten Einwirkung das Gewicht einer wesentlich mitwirkenden Bedingung zu nehmen, kommt es rechtlich maßgeblich darauf an, ob der Vorschaden so weit fortgeschritten war, dass der Erfolg zu (etwa) derselben Zeit - und nicht irgendwann in der Zukunft - auch durch eine Alltagsbelastung bewirkt worden wäre.
2. Diese Prognose ist auf objektiv feststellbare Umstände zu stützen, deren tatsächliche Grundlagen vollbeweislich belegt sein müssen.
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. November 2011 wird aufgehoben und in Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 23. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2009 festgestellt, dass der Arbeitsunfall vom 10. Juni 2008 als Schaden auch den Verlust der Zähne 21 und 22 umfasst.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Vorverfahren und beide Rechtszüge.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob ein Arbeitsunfall einen zusätzlichen (Gesundheitserst-)Schaden umfasst.
Der 1965 geborene Kläger rutschte am 10. Juni 2008 um 10.15 Uhr bei versicherter Tätigkeit (Demontage von Hilfseisen an der Anschlussbewehrung einer Bodenplatte) mit einem Fuß ab, stürzte nach vorn und prallte dabei u.a. mit dem Mund auf nach oben stehende Bewehrungsstangen. Dabei zog er sich Prellungen und Abschürfungen am rechten Unterarm sowie im Bereich des Mundes zu und schlug sich zwei Zähne aus (Unfallanzeige vom 20. Juni 2008 sowie undatierte Unfallschilderung). Die am selben Tag um 13.00 Uhr aufgesuchte Zahnärztin Dr. G. replantierte die Zähne 21 und 22 nach einer außerhalb der Mundhöhle durchgeführten Wurzelbehandlung. Vor dem Unfall fehlten beim Kläger die Zähne 12 (eingeengter Lückenschluss), 16, 17, 24, 27, 28 sowie 38 und 48. Die Zähne 11 und 21 waren überkront. Nach dem der Beklagten vorgelegten Heil- und Kostenplan sollte der Zahn 21 im Rahmen einer Brückenversorgung unter Einbeziehung der Zähne 11, 13, 23, 24 und 26 ersetzt werden.
In seinen beratenden Stellungnahmen vom 16. April und 30. August 2009 verwies der Zahnarzt S. darauf, dass die Zähne 21 und 22 bereits wurzelbehandelt gewesen seien. Ferner ergebe sich aus der vorgelegten Röntgenaufnahme vom 10. Juni 2008 ein horizontaler Knochenabbau mit vertikalen Einbrüchen im gesamten Gebiss. Sämtliche Oberkieferzähne seien nur noch mit dem oberen Wurzeldrittel im Knochen verankert. Dies entspreche einer fortgeschrittenen Parodontitis. Insbesondere die unfallbedingt betroffenen Zähne 21 und 22 stünden praktisch nur noch mit der Wurzelspitze im Knochen. Es sei davon auszugehen, dass diese Zähne zum Unfallzeitpunkt nur noch bedingt erhaltungswürdig gewesen seien und bereits einen Lockerungsgrad II bis III aufgewiesen hätten, so dass der Unfall nur als Gelegenheitsursache zu werten sei. Im Übrigen sei die geplante Brückenversorgung angesichts des parodontalen Gebisszustandes kontraindiziert, da die Zähne für eine festsitzende Versorgung ungeeignet erschienen und in nächster Zeit mit weiteren Zahnverlusten zu rechnen sei.
Mit Bescheid vom 23. April 2009 erkannte die Beklagte den Unfall vom 10. Juni 2008 in der Sache als Arbeitsunfall an und lehnte eine Kostenübernahme für zahnärztliche sowie prothetische Leistungen ab, da die Schädigung der Zähne nicht wesentlich ursächlich auf diesen zurückzuführen sei. Vielmehr hätten die vom Unfall betroffenen Zähne zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vorschädigung in so erheblichem Ausmaß aufgewiesen, dass sie allein deshalb nicht mehr als erhaltungswürdig einzustufen gewesen seien.
Zur Begründung seines hiergegen am 18. Mai 2009 erhobenen Widerspruchs erklärte der Kläger, er nehme an einem Prophylaxeprogramm teil. Die letzte Vorsorgeuntersuchung habe am 13. Mai und die letzte prophylaktische Zahnreinigung am 3. Juni 2008 stattgefunden. Zahn 21 sei am 13. Oktober 2008 endgültig verloren gegangen; Zahn 22 sei nach der durchgeführten zahnärztlichen Behandlung klinisch wieder fest. Dr. G. gab unter dem 27. Mai 2009 an, die Zähne 21 und 22 seien vor dem Unfall fest gewesen und es habe eine stabile okklusale Abstützung bestanden. Nur anhand einer Röntgenaufnahme lasse sich der klinische Zustand nicht beurteilen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2009 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und vertiefte ihre Ausführungen aus dem Ausgangsbescheid.
Am 17. November 2009 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage erhoben und sein Anliegen weiter verfolgt. Dieses hat von Dr. G. neben weiteren Röntgenaufnahmen den Befundbericht vom 5. März 2010 beigezogen. Die Ärztin hat ausgeführt, an den Zähnen 21 und 22 habe vor dem Unfall bei optimaler klinischer Prognose nur ein leichte...