Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. angemessene Unterkunftskosten. schlüssiges Konzept des Grundsicherungsträgers. Festlegung von Vergleichsräumen für den Landkreis Wittenberg. Zusammenleben eines Elternteils mit einem unter 25-jährigen Kind mit bedarfsdeckendem eigenen Einkommen. Abweichung vom Kopfteilprinzip. Datenerhebung. unteres Wohnungsmarktsegment. Nachfrageanalyse. Wohnungsgröße. Perzentilwert. rechtswidrige Verwaltungsvorschrift. fehlende Regelung über Einzelfallprüfung bei Mietwerterhebung bei mangelnder Verfügbarkeit von Wohnraum

 

Leitsatz (amtlich)

1. Das Gebiet des Landkreises Wittenberg stellt im Rahmen der Anwendung von § 22 Abs 1 SGB II keinen einheitlichen Vergleichsraum dar. Das Kreisgebiet unterfällt in die Vergleichsräume Lutherstadt Wittenberg und "Übriger Landkreis", sodass der Landkreis Wittenberg aus zwei Vergleichsräumen besteht.

2. Für die Bedarfsermittlung von Familien ist zunächst (fiktiv) vom Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft zwischen Eltern und minderjährigen haushaltsangehörigen Kindern auszugehen. Dies gilt auch für die (angemessenen) KdUH. Können Kinder den so ermittelten individuellen Bedarf aus ihrem Einkommen und Vermögen decken, scheiden sie aus der Bedarfsgemeinschaft aus, auch wenn eine kopfteilige Verteilung der tatsächlich höheren KdUH nicht zu einer vollständigen Bedarfsdeckung aus eigener Kraft und daher nicht zum Ausscheiden aus der Bedarfsgemeinschaft führen würde. Die verbleibenden Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft haben Anspruch auf angemessene KdUH entsprechend der Größe der (verbleibenden) Bedarfsgemeinschaft und unter Abzug des KdUH-Anteils des ausgeschiedenen Kindes. Die damit regelmäßig verbundene Erhöhung des individuellen KdUH-Bedarfs und die Abweichung vom Kopfteilprinzip sind hinzunehmen.

3. Um bei einem sog schlüssigen Konzept nach Vollerhebung des Wohnungsmarktes eine zutreffende Ableitung für das untere Wohnungsmarktsegment vornehmen zu können, ist eine nach der Größe der Bedarfsgemeinschaften differenzierte Nachfrageanalyse zu erstellen. Folgt daraus für Ein- und Fünfpersonenhaushalte ein Nachfrageranteil von 38 bzw 39%, der deutlich über dem Durchschnitt (25 bis 30%) liegt, reicht es nicht aus, einen Perzentilwert von 40 für diese Wohnungsgrößen zugrundezulegen.

4. Der kommunale Träger muss in die Angemessenheitsrichtlinie eine entsprechende Regelung aufnehmen, wenn der Konzeptersteller in der Mietwerterhebung bei bestimmten Wohnungsgrößenklassen festgestellt hat, dass aufgrund einer zu geringen Anzahl von Angebotsmieten ein Abgleich der Verfügbarkeit von Wohnungen auf dem aktuellen Mietwohnungsmarkt zum ermittelten Bestandsmietenwert als Angemessenheitswert nicht möglich und daher über die Angemessenheit der Unterkunftskosten nach Einzelfallprüfung zu entscheiden ist. Trifft der kommunale Träger keine entsprechende Regelung, ist die Verwaltungsvorschrift insoweit rechtswidrig und der für die betroffene Wohnungsgröße festgelegte Angemessenheitswert beruht nicht auf einem schlüssigen Konzept.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 19.08.2019; Aktenzeichen B 14 AS 264/18 B)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 19. August 2015 wird aufgehoben, soweit dem Kläger weitere Leistungen nach dem SGB II zuerkannt worden sind. Insoweit wird die Klage abgewiesen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten für das gesamte Verfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung höherer Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Im Überprüfungsverfahren geht es um die Höhe der zu berücksichtigenden Aufwendungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) für die Monate Februar und März 2012.

Die 1979 geborene Klägerin und ihr am ... 2004 geborener Sohn, der Kläger, beziehen – mit Unterbrechungen – seit 2005 von dem Beklagten SGB II-Leistungen als Bedarfsgemeinschaft. Von September 2008 bis September 2012 bewohnten die Kläger eine 74 m² große Dreizimmerwohnung in der J.-Straße in Wittenberg, für die eine Kaltmiete von 330,00 EUR sowie eine Betriebskostenvorauszahlung von 85,00 EUR monatlich zu zahlen war (Bruttokaltmiete [BKM] 415,00 EUR). Zusätzlich fielen Vorauszahlungen für Heizung und Warmwasserbereitung (Gas) in Höhe von 82,00 EUR monatlich an. Bereits mit Bewilligungsbescheid vom 4. Juli 2011 für den Zeitraum ab April 2011 hatte der Beklagte die Kläger darauf hingewiesen, dass die Unterkunftskosten unangemessen seien, und sie aufgefordert, diese bis zum Jahresende 2011 auf ein angemessenes Maß zu senken. Danach werde nur noch die für einen Zweipersonenhaushalt angemessene BKM von 316,20 EUR berücksichtigt. Die Heizkosten seien angemessen.

Die Klägerin erzielte im streitigen Zeitraum kein Erwerbseinkommen. Für den Kläger wurde Kindergeld von 184,00 EUR und Unterhalt von 309,00 EUR geleistet.

Auf den Weiterbewilligungsantrag der Kl...

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