Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Vermögensberücksichtigung. minderjähriges Kind. keine Nutzung der Freibeträge der Eltern bei Überschreitung des persönlichen Freibetrages. Rücknahme der Leistungsbewilligung für die Vergangenheit. fiktiver Vermögensverbrauch zur Vermeidung von Doppelberücksichtigung. Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen. Eintritt von Rechtswidrigkeit der Erstattungsbescheide. Haftungsbeschränkung mit Eintritt der Volljährigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Kinder, deren Vermögen ihren persönlichen Freibetrag nach SGB 2 übersteigt, können nicht quasi ergänzend die den Eltern zustehenden Freibeträge nutzen. Die Regelung des § 12 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB 2, nach der die Freibeträge dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und seinem Partner unabhängig davon wechselseitig zu Gute kommen, ob jeder über eigenes Vermögen verfügt, kann nicht auf die minderjährigen Kinder übertragen werden. Es gibt im SGB 2 weder ein "Familienvermögen" noch einen "Familienvermögensfreibetrag" als Summe der den Einzelpersonen der Familie zustehenden Freibeträge.

2. Bei der Rücknahme von Bewilligungsbescheiden wegen verschwiegenen Vermögens ist rückschauend zu überprüfen, ob und wie lange einzusetzende Beträge zur Bedarfsdeckung ausgereicht hätten. Eine Mehrfachanrechnung ist nicht zulässig, denn durch die Anwendung des § 45 SGB 10 soll die materiell zutreffende Rechtslage hergestellt werden. Die Regelung hat keinen darüber hinausgehenden Sanktionscharakter (vgl ebenso SG Karlsruhe vom 30.6.2011 - S 13 AS 1217/09).

3. Mit Eintritt der Volljährigkeit wird der vom Leistungsträger gegen einen minderjährigen Leistungsberechtigten erlassene Erstattungsbescheid rechtwidrig, soweit dessen pfändbares Vermögen hinter der Verbindlichkeit (Erstattungsforderung) zurückbleibt (vgl BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R = BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2).

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 15. Dezember 2009 und die Bescheide des Beklagten vom 31. Januar 2007 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 30. September 2008 werden aufgehoben, soweit der Beklagte die Erstattung eines über 171,96 EUR hinausgehenden Gesamtbetrags verlangt.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger 80 % seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten für das Klage- und Berufungsverfahren zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen zwei Rücknahme- und Erstattungsbescheide des Beklagten, der die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Mai 2006 sowie für die Kosten einer Klassenfahrt vollständig aufgehoben hat.

Der am ... 1990 geborene Kläger lebte mit seinem Vater, Berufungskläger im Verfahren L 5 AS 55/10, seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder, Berufungskläger im Verfahren L 5 AS 57/10, in einem gemeinsamen Haushalt im Eigenheim der Eltern.

Die Mutter des Klägers erzielte Erwerbseinkommen, der Vater bezog seit 9. März 2004 Arbeitslosenhilfe. Am 26. August 2004 beantragte der Vater des Klägers für sich und seine Familie Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bei dem Beklagten. Für den Kläger verneinte der Vater durch entsprechendes Ankreuzen zu Punkt VII "Vermögensverhältnisse des Antragstellers/der Antragstellerin und der im Haushalt lebenden weiteren Personen", dass die weiteren haushaltsangehörigen Personen Vermögen hätten, das den Wert von je 750 EUR übersteige. Weiter machte der Vater Angaben zum Girokonto und zum Bausparvertrag der Eltern. Die Fragen nach Bargeld, Sparbüchern, Sparbriefen oder sonstigen Wertpapieren verneinte er. In den Fortzahlungsanträgen vom 11. Mai und 7. Oktober 2005 erklärte der Vater des Klägers jeweils, es gebe keine Änderungen.

Für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Mai 2006 bewilligte der Beklagte den Mitgliedern der vierköpfigen Bedarfsgemeinschaft SGB II-Leistungen in monatlich unterschiedlicher Höhe. Dabei entfielen auf den Kläger Leistungen für die anteiligen Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) iHv 51,89 EUR/Monat im Zeitraum von Januar bis Juni 2005, iHv 48,15 EUR im Juli und August 2005, iHv 47,53 EUR im September 2005, iHv 27,16 EUR im November 2005 sowie iHv 60,49 EUR/Monat im Zeitraum von Dezember 2005 bis Februar 2006. Für Folgemonate der Bewilligung wurden keine Leistungen mehr ausgezahlt. Insgesamt erhielt der Kläger Leistungen iHv 663,80 EUR. Zudem bewilligte der Beklagte ihm mit Bescheid vom 29. Juli 2005 Leistungen für die Kosten einer Klassenfahrt iHv 167,75 EUR.

Durch den Datenabgleich nach § 52 SGB II vom 12. Dezember 2005 erfuhr der Beklagte, dass der Kläger und sein Bruder für das Jahr 2003 Kapitalerträge erzielt hatten, der Kläger iHv 10 EUR bei der UI.- ...fonds GmbH (UI) und iHv 431 EUR bei der ...Bank (B). Dies teilte der Beklagte dem Vater des Klägers mit und bat um Äußerung.

Dieser führte im Schreiben vom 10. Februar 2006 aus, es handele sich bei den Anlagen um "das Gesamtvermögen unserer Familie". D...

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