Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankenhaus. nachträgliche Einleitung eines Prüfungsverfahrens. Berufung auf das Vorliegen eines Anscheinsbeweises. extrakorporale Stoßwellentherapie bei IPP. Beweislast. ambulante und nicht vollstationäre Behandlungsform. ungerechtfertigte Bereicherung. Verwirkung. Verjährung medizinischer Überprüfungen sowie Erstattungsforderungen
Leitsatz (amtlich)
1. Verlangt die Krankenkasse vom Krankenhaus in einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch die Rückzahlung von geleisteten Zahlungen, ist sie grundsätzlich beweisbelastet.
2. Hat sich die Krankenkasse durch Einholung eines MDK-Gutachtens mit grundsätzlicher Bedeutung sowie durch weitere medizinische Ermittlungen Erkenntnisse verschafft, wonach die streitigen Behandlungsfälle generell nur ambulant abrechenbar erscheinen, ist es nicht verfahrenswidrig, wenn die Krankenkasse von weiteren MDK-Einzelfallprüfungen Abstand nimmt und vom Krankenhaus zunächst eine nähere Begründung für die stationäre Behandlung anfordert. Für die Behandlung mittels ESWT bei IPP kann unter besonderen Umständen ein Anscheinsbeweis zu Gunsten der Krankenkasse in Betracht kommen. Dann obliegt es dem Krankenhaus, diesen Anscheinsbeweis zu erschüttern.
3. Vernichtet das Krankenhaus vor Ablauf der Aufbewahrungsfrist bei laufendem Gerichtsverfahren Patientenakten, wodurch eine weitere Amtsermittlung oder eine MDK-Prüfung verhindert werden, kann dies zu einer Beweislastumkehr oder zumindest zu einer Beweislastverschiebung führen.
Orientierungssatz
1. Die ESWT bei IPP erfordert regelhaft keine stationären medizinischen Akutmaßnahmen oder unter stationären Bedingungen durchzuführende Beobachtungen oder Überwachungen, sondern ist als rein ambulante Behandlungsform anzusehen.
2. In Anwendung von § 814 BGB kann ein Anspruch nach § 812 BGB nur dann ausgeschlossen sein, wenn der Leistende in positiver Kenntnis der Nichtschuld gezahlt hatte. Das kann dann nicht angenommen werden, wenn eine Krankenkasse die Behandlung mittels ESWT aus der Abrechnung des Krankenhauses zunächst nicht erkennen konnte.
5. Der von einem Krankenhaus vorgebrachte Verwirkungseinwand kann nur durchgreifen, wenn einer Krankenkasse ein erheblicher Verstoß gegen das gesetzliche Prüfverfahren vorgehalten werden kann.
6. Grundsätzlich kann eine Krankenkasse bis zum Ablauf der vierjährigen Verjährungsfrist medizinische Überprüfungen sowie Erstattungsforderungen geltend machen. Dies gilt auch unter der Neuregelung des § 275 Abs 1c SGB 5 und erst Recht vor Einführung dieser Norm (vgl BSG vom 13.11.2012 - B 1 KR 24/11 R = BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg wird abgeändert und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 36.369,78 EUR nebst 4 % Zinsen aus 23.713,53 EUR seit 21. Dezember 2006, aus 10.870,20 EUR seit 29. November 2007 und aus 1.786,05 EUR seit 28. September 2012 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Klageverfahrens haben die Beklagte 9/10 und die Klägerin 1/10 zu tragen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte allein.
Der Streitwert wird bis zum 27. September 2012 auf 34.583,73 EUR und ab 28. September 2012 auf 36.369,78 EUR festgesetzt.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch aus stationären Behandlungen mit der extrakorporalen Stoßwellentherapie (ESWT) der Beklagten in den Jahren 2001 bis 2003.
Die Beklagte betreibt ein Krankenhaus, das in den Krankenhausplan des Landes Sachsen-Anhalt aufgenommen ist. Vom 25. Januar 2001 bis 18. Juni 2003 behandelte sie diverse Versicherte der Klägerin mit der ESWT auf der Grundlage der Diagnose einer induratio penis plastica (IPP). Zu den näheren Angaben nach Versicherten, Diagnosen, Rechnungspositionen usw. wird auf Bl. 286 ff. der Gerichtsakte Bezug genommen. Bei der IPP handelt es sich um eine Penisverkrümmung, die mit Schmerzen insbesondere bei Erektion verbunden ist. Die Klägerin erhielt von der Beklagten bei Aufnahme der Versicherten neben deren Daten jeweils die Aufnahmediagnose "N 48.6", jedoch keinen Hinweis auf die konkrete Behandlung mittels ESWT. Die Klägerin wies die jeweils geforderten Beträge fristgerecht und ohne gesonderten Vorbehalt an.
Im Jahr 2003 unterzog die Klägerin diese Behandlungsfälle einer eingehenden Prüfung, bei der sie feststellte, dass die genannten Versicherten mit der ESWT behandelt worden waren. Daraufhin machte sie gegenüber der Beklagten Rückforderungsansprüche geltend und erklärte am 20. April 2004, sie könne keinen Rückforderungsverzicht erklären. Die ESWT sei im vertragsärztlichen Bereich nicht abrechnungsfähig. Auch könne die Behandlung grundsätzlich ambulant erfolgen. Nachdem das Therapiegerät zwischenzeitlich abgeschafft sei, dürften zukünftig keine weiteren Streitfälle mehr entstehen. Demgegenüber machte die Beklagte geltend, die Beha...