Entscheidungsstichwort (Thema)
Entschädigung wegen überlangen Gerichtsverfahrens. Altverfahren. Angemessenheit der Verfahrensdauer. einheitliche Betrachtungsweise in den Instanzen. Richterwechsel. Organisationsverschulden durch fehlende personelle Ausstattung der Gerichte. Anspruch einer juristischen Person auf Entschädigung für entgangenen Gewinn. keine zeitanteilige Berechnung der Entschädigung. Bindungswirkung einer Entscheidung des BVerfG
Leitsatz (amtlich)
1. § 198 GVG findet auch auf abgeschlossene Verfahren Anwendung, deren Dauer bei seinem Inkrafttreten Gegenstand von anhängigen Beschwerden beim EGMR ist. Die Zulässigkeit einer solchen Beschwerde ist unerheblich (aA OLG Celle vom 24.10.2012 - 23 SchH 10/12).
2. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach allen Umständen des Einzelfalles. Pauschalierungen oder die Orientierung an Durchschnittswerten sind nicht zulässig.
3. Die Dauer eines Verfahrens ist in den verschiedenen Instanzen grundsätzlich einheitlich zu betrachten. Daher zwingt auch eine noch knapp angemessene Verfahrensdauer das Rechtsmittelgericht zu einer schnelleren Bearbeitung.
4. Verzögerungen, die auch bei bester Organisation und Personalausstattung nicht vermieden werden können, sind hinzunehmen (vgl BVerfG vom 30.7.2009 - 1 BvR 2662/06 = NJW-RR 2010, 207; EGMR vom 24.6.2010 - 21423/07 = Juris RdNr 34). Daher ist eine durch einen Richterwechsel verursachte Verzögerung regelmäßig nicht zu entschädigen.
5. Als Anspruch wegen eines (vermuteten) Organisationsverschuldens umfasst § 198 Abs 1 GVG auch einen Ausgleich für einen entgangenen Gewinn (vgl EGMR vom 2.9.2010 - 46344/06 = NJW 2010, 3355; aA OVG Magdeburg vom 25.7.2012 - 7 KE 1/11 = NVwZ 2012, 1637 = Juris RdNr 80).
6. Auch eine juristische Person kann für einen Nachteil, welcher nicht Vermögensnachteil ist, entschädigt werden (EGMR vom 6.4.2000 - 35382/97). Insoweit können (nicht konkret nachweisbare) Kosten oder entgangene Gewinne, besondere Belastungen oder die fehlende Planungssicherheit berücksichtigt werden.
7. Für Zeiträume unter einem Jahr kann nach dem klaren Gesetzeswortlaut keine zeitanteilige Berechnung erfolgen (aA OVG Berlin-Brandenburg vom 27.3.2012 - OVG 3 A 1.12).
8. Zur Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG bezüglich einer überlangen Verfahrensdauer.
Orientierungssatz
Das Urteil ist ergangen nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine auf Art 19 Abs 4 GG gestützte Verfassungsbeschwerde im zugrunde liegenden Ausgangsverfahren (vgl BVerfG vom 14.12.2010 - 1 BvR 404/10 = SozR 4-1100 Art 19 Nr 10).
Nachgehend
Tenor
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.400,00 Euro zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 3/5.
Die Klägerin trägt jeweils 2/5 der Gerichtskosten und der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beklagten.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar; für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch die Beklagte gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 4.200,00 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt eine angemessene Entschädigung für eine überlange Verfahrensdauer in dem Klageverfahren Az.: S 12 P 27/00 vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg und dem Berufungsverfahren Az.: L 4 P 1/07 vor dem Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt.
Am 6. Oktober 1999 beantragte die Klägerin die Zustimmung zur gesonderten Inrechnungstellung von Investitionsaufwendungen i.H.v. 10,05 DM (5,14 Euro) pro Pflegetag und Heimbewohner für den Zeitraum vom 6. Dezember 1999 - 31. Dezember 2000. Am 7. April 2000 stimmte das in jenem Verfahren und auch hier beklagte Land Sachsen-Anhalt nur einer Inrechnungstellung der Abschreibung für ein Kfz i.H.v. 0,38 DM (0,19 Euro) für den Zeitraum 6. Dezember - 31. Dezember 2000 pro Heimbewohner zu und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Daraufhin erhob die Klägerin Klage. Aus den beigezogenen Akten dieses Ausgangsverfahrens ergeben sich zusammengefasst folgende Vorgänge und Verfügungen:
8. Mai 2000 Klageeingang, Klagebegründung wird vorbehalten
14. Juni 2000 Erwiderung der Beklagten, ausführliche Klageerwiderung wird vorbehalten, Wv. (Wiedervorlage): 1. September 2000
13. Juli 2000 Eingang der Klagebegründung vom 12. Juli 2000
1. August 2000 Schriftsatz der Klägerin vom 12. Juli 2000 zur Kenntnis- und Stellungnahme der Beklagten, Wv.: 20. September 2000
17. September 2000 Klageerwiderung der Beklagten vom 11. September 2000 zur Kenntnis- und Stellungnahme an die Klägerin, Wv.: 10. November 2000
2. November 2000 Eingang Schriftsatz der Klägerin vom 30. Oktober 2000
28. März 2001 Vermerk der Geschäftsstelle, Schreiben vom 30. Oktober 2000 sei fehlerhaft zugeordnet...