Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit der Anfechtung eines gerichtlichen Vergleichs. Öffentlich-rechtlicher Vertrag. Sitzungsniederschrift. Motivirrtum. Rechtsfolgenirrtum. Arglistige Täuschung. Widerrechtliche Drohung. Hinweis auf das Prozessrisiko. Wiederaufnahme des Verfahrens
Orientierungssatz
1. Bei einem Streit über die Beendigung eines Rechtsstreites durch Vergleich entscheidet das Gericht entweder, dass die Beendigung des Rechtsstreites durch Endurteil festgestellt wird oder, wenn eine Beendigung nicht vorliegt, in der Sache selbst.
2. Ein gerichtlicher Vergleich ist gemäß § 779 Abs 1 BGB unwirksam, wenn der nach dem Inhalt des Vertrags als feststehend zugrunde gelegte Sachverhalt der Wirklichkeit nicht entspricht und der Streit oder die Ungewissheit bei Kenntnis der Sachlage nicht entstanden wäre.
3. Nicht wegen Irrtums gemäß § 119 BGB anfechtbar ist eine Erklärung, die auf einem während der Willensbildung unterlaufenden Irrtum im Beweggrund beruht. Nur ausnahmsweise berechtigt ein Rechtsfolgenirrtum - Motivirrtum - zur Anfechtung, nämlich dann, wenn das vorgenommene Rechtsgeschäft wesentlich andere als die beabsichtigten Rechtswirkungen erzeugt (vgl BVerwG vom 10.3.2010 - 6 C 15/09).
4. Haben die Verfahrensbeteiligten durch gegenseitiges Nachgeben eine endgültige Regelung über den Rechtsstreit getroffen, so kann allenfalls ein Rechtsfolgenirrtum vorliegen, welcher rechtlich unbeachtlich ist.
5. Die wirksame Anfechtung eines Prozessvergleichs durch den Kläger gegenüber einer Behörde als Beklagte setzt voraus, dass deren Vertreter unrichtige Tatsachen genannt oder Umstände verschwiegen hat, zu deren Aufklärung er vor Abschluss des Prozessvergleichs verpflichtet gewesen wäre (vgl BSG vom 24.1.1991 - 2 RU 51/90 = HV-INFO 1991, 1166).
6. Eine Unwirksamkeit des Prozessvergleichs wegen widerrechtlicher Drohung seitens des Kammervorsitzenden verlangt den Nachweis der Ankündigung eines künftigen Übels. Der Hinweis des Vorsitzenden auf das Risiko einer größeren Belastung für den Fall einer gerichtlichen Entscheidung ist keine Drohung in diesem Sinn.
Normenkette
SGG § 101 Abs. 1, § 122; SGB X § 58 Abs. 1; BGB § 119 Abs. 1, § 121 Abs. 1, §§ 123, 779 Abs. 1; ZPO § 162 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 3 Nr. 1, § 585 Nr. 5
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Anfechtung eines gerichtlichen Vergleichs.
Der am ... 1948 geborene Kläger hatte am 7. Dezember 2004 beim Beklagten für sich und seine Ehefrau Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) beantragt. Als Einkommen der Ehefrau hatte er ein Bruttoeinkommen i.H.v. 1.625,51 EUR/Monat angegeben. Der Beklagte hatte unter Anrechnung dieses Einkommens mit Änderungsbescheid vom 20. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Januar 2006 Leistungen für Februar 2005 i.H.v. 390,54 EUR, mit Bescheid vom 14. Februar 2006 für März 2006 i.H.v. 178,03 EUR und für April bis August 2006 i.H.v. 257,11 EUR/Monat bewilligt, mit Änderungsbescheid vom 13. Mai 2006 die Leistungen für Juli und August 2006 auf 283,11 EUR/Monat erhöht sowie mit weiterem Bescheid vom 20. Juli 2006 Leistungen für September 2006 i.H.v. 283,11 EUR bewilligt (gesamt: 2.189,23 EUR).
Im Rahmen eines Folgeantrags hatte der Beklagte Einkommensnachweise angefordert. Das wechselnde Einkommen war danach jeweils höher als bisher zugrunde gelegt. Der Beklagte hatte mit Bescheid vom 27. Oktober 2006 die Leistungsbewilligung für Februar 2005 und für März bis September 2006 ganz i.H.v. 2.189,23 EUR gemäß § 45 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) aufgehoben. Die Änderungen des Einkommens seien grob fahrlässig nicht mitgeteilt worden. Im Widerspruchsverfahren hatte der Beklagte eine Anhörung durchgeführt und den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16. November 2006 zurückgewiesen. Die Leistungsaufhebung richte sich für März bis September 2006 verschuldensunabhängig nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X.
Dagegen erhob der Kläger am 29. September 2006 Klage vor dem Sozialgericht Magdeburg. Er habe immer die neuesten Lohnzettel abgegeben und den für Januar 2005 veranlassten Lohnsteuerklassenwechsel mündlich mitgeteilt. In der mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits am 15. Juli 2008 legte er weitere Unterlagen vor, u.a. ein Urteil des Amtsgerichts H. vom 28. September 2007 (4 OWi 952 Js 76925/07 (249/07)). Dieses hatte ihn von dem Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit durch Verletzung von Mitteilungspflichten im Bußgeldbescheid des Beklagten vom 20. Dezember 2006 freigesprochen. Der Vertreter des Beklagten gab an, auf den Kläger entfalle ein anteiliger Rückforderungsbetrag von 1.834,83 EUR.
Ausweislich des Sitzungsprotokolls schlossen die Beteiligten "zur Erledigung des Rechtsstreits folgenden Vergleich:
1. Die Beteiligten gehen unter Abänderung der angefochten...