Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Impfschaden. Impfung gegen Schweinegrippe. H1N1-Virus. Guillain-Barre-Syndrom. kausaler Zusammenhang. Wahrscheinlichkeit. Studie des Paul-Ehrlich-Instituts. Kann-Versorgung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Anerkennung eines Guillain-Barre-Syndroms (GBS) nach der sog Schweinegrippeimpfung kann als Impfschaden im Rahmen der Kann-Versorgung erfolgen, sofern ein plausibles Zeitfenster für den Erkrankungsbeginn vorliegt und kein anderen Ursachen feststehen. Denn die vom Paul-Ehrlich-Institut durchgeführte Studie hat ein erhöhtes Auftreten des GBS nach der Impfung nachgewiesen.

 

Orientierungssatz

Bei jeder Kann-Versorgung besteht immer auch eine andere Möglichkeit der Kausalität.

 

Normenkette

IfSG § 60 Abs. 1 S. 1, § 2 Nr. 11, § 61 Sätze 1-2

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung des bei ihm vorliegenden Guillain-Barré-Syndrom (GBS) als Impfschaden und die Gewährung von Versorgungsleistungen.

Der 1940 geborene Kläger, selbst Mediziner, beantragte am 4. Februar 2010 die Gewährung von Versorgung nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG), weil er nach der Impfung am 24. November 2009 mit dem Impfstoff Pandemrix Lot: A81cA073A gegen die Influenza H1N1 (Schweinegrippe) an einem GBS erkrankt sei.

Der Beklagte führte medizinische Ermittlungen durch. Nach den Behandlungsunterlagen der Klinik für Neurologie der Universität M. vom 21. Januar 2010 befand sich der Kläger dort vom 13. Dezember 2009 bis 11. Januar 2010 in stationärer Behandlung wegen eines GBS. Eine frische Ischämie oder Blutung habe ausgeschlossen werden können. In der Epikrise wurde mitgeteilt, bei Aufnahme habe der Kläger berichtet, dass er vor ca. 3 Wochen eine H1N1-Impfung erhalten habe. Im Anschluss habe er einen "grippalen Infekt mit 38,5 °C, Fieber und Husten" entwickelt. Kurze Zeit später habe er eine Hypästhesie bemerkt, einen Geschmacksverlust sowie Kribbelparästhesien der Hände. Anschließend seien Taubheitsgefühle der Füße aufgetreten, die bis zu den Knien aufgestiegen seien. Außerdem habe er eine Schwächesymptomatik der Beine entwickelt. Das Klinikum meldete dem PEI, Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel (PEI) sowie dem Gesundheitsamt M. die Erkrankung des Klägers als Impfkomplikation. Im Entlassungsbericht aufgrund der Neurologischen Rehabilitationsmaßnahme der Klinik M. (stationärer Aufenthalt vom 26. Februar bis 20. März 2010) vom 22. März 2010 wurde mitgeteilt, der Kläger habe geschildert, dass er im November 2009 eine H1N1 - Impfung erhalten habe. Im Anschluss habe er einen grippalen Infekt mit Temperaturen bis 38,5°, Husten und Fieber entwickelt. Kurze Zeit später habe er eine Hypästhesie bemerkt, ebenso einen Geschmacksverlust und Kribbelparästhesien der Hände, anschließend Taubheitsgefühle der Füße bis zu den Knien aufsteigend und Temperaturempfindungsstörungen in diesem Bereich.

In seiner prüfärztlichen Stellungnahme führte der ärztliche Gutachter des Beklagten Dipl.-Med. K. am 22. Juli 2010 aus: An GBS erkrankten in Deutschland in jedem Jahr etwa einer von 65.000 Einwohnern. In dem Epidemiologischen Bulletin Nr. 25 des R.-K.-I. vom Juni 2007 (EB) werde ausgeführt: "Wenn moderne Influenzaimpfstoffe überhaupt ein GBS - Risiko beinhalten, dürfte das Risiko sehr niedrig sein (1:1.000.000 Impfungen)". Bei einer relativ hohen Inzidenz (Anzahl der Neuerkrankungen) in der nicht geimpften Normalbevölkerung und der recht geringen Wahrscheinlichkeit durch eine Influenzaimpfung am GBS-Syndrom zu erkranken, sei daher ein kausaler Zusammenhang zwischen der Impfung und dem GBS nicht wahrscheinlich. Es müsse hier eher von einer zufälligen zeitlichen Koinzidenz (Zusammentreffen) von Impfung und GBS ausgegangen werden. Die Kann-Versorgung sei hier nicht anwendbar, da zur Ätiologie und Pathogenese des GBS genügend gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse vorlägen.

Dem folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 29. Juli 2010 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem IfSG ab.

Mit seinem am 4. August 2010 eingelegten Widerspruch trug der Kläger vor: Die zugrunde gelegten Erkenntnisse aus dem Jahr 2007 stammten vor dem Einsatz von Adjuvantien (Verstärkern) des Typs AS03. Das Bundesgesundheitsministerium habe das PEI mit der gesonderten Beobachtung bei Grippeschutzimpfungen mit Verstärkern im Hinblick auf das GBS beauftragt und einen Bericht dazu im Jahr 2010 vorgelegt. Hinsichtlich der Kann-Versorgung habe der Beklagte nicht dargelegt, welchen genügend gesicherten medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse gemeint seien.

In ihrer prüfärztlichen Stellungnahme vom 31. März 2011 führte die ärztliche Gutachterin des Beklagten Dr. W. aus: Der Kläger habe nach den Berichten vom 21. Januar und 22. März 2010 im Anschluss an die Grippeschutzimpfung einen grippalen Infekt erlitten, sodass mit über...

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