Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss wegen Bezugs einer russischen Altersrente. grob fahrlässige Nichtangabe. Erfüllungsfiktion. Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers gegenüber dem Sozialhilfeträger. Kenntnis von der Leistungspflicht
Leitsatz (amtlich)
1. Unzureichende Kenntnisse der deutschen Sprache stehen dem Vorwurf eines Sorgfaltspflichtverstoßes bei unvollständigen Angaben in Antragsformularen grundsätzlich nicht entgegen. Sprachunkundige müssen sich ggf durch Hinzuziehung eines Übersetzers hinreichende Klarheit vom Inhalt der Formulare verschaffen. Lassen sie sich den Inhalt nicht vollständig und nur kursorisch übersetzen und weisen sie gegenüber der Behörde nicht auf bestehende Sprach- und/oder Verständnisprobleme hin, begründet dies bei gebildeten und in Behördenangelegenheiten nicht ungeübten Personen in der Regel den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit iS von § 45 Abs 2 S 3 Nr 2 SGB 10.
2. Die in Leistungsfällen von der Rechtsprechung über § 16 SGB 1 vorgenommene Einschränkung des Kenntnisgrundsatzes (§ 18 SGB 12) lässt sich auf Erstattungsfälle nicht mit der Folge der Unanwendbarkeit von § 105 Abs 3 SGB 10 übertragen (vgl BVerwG vom 2.6.2005 - 5 C 30/04 = Buchholz 435.12 § 105 SGB X Nr 4). Dies entspricht dem Gesetzeswortlaut, der Gesetzessystematik als Ausnahmevorschrift und dem gesetzgeberischen Willen zu § 105 Abs 3 SGB 10.
Nachgehend
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 12. Dezember 2013 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rücknahme und Erstattung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2010.
Die am ... 1948 in S. (Russland) geborene Klägerin siedelte am 8. April 2004 in die Bundesrepublik Deutschland über. Sie bezog zunächst Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und ab Juni 2004 Eingliederungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) für den Besuch einer Sprachschule. In einer Erklärung gegenüber dem Generalkonsulat in Russland vom 12. Februar 2004 gab die Klägerin eine Rente in Höhe von 1.200 Rubel und den Verkauf einer Eigentumswohnung für 500.000 Rubel an. Im Sozialhilfeantrag vom 1. Juni 2004 wurde gegenüber dem Beigeladenen unter III. kein Einkommen angegeben und die Frage unter VII. "Wovon wurde der bisherige Lebensunterhalt bestritten" handschriftlich mit der handschriftlichen Formulierung "Rente" beantwortet. In der Sozialhilfeakte befindet sich ein Formular in kyrillischer Schrift, das auf die Altersrente der Klägerin in Höhe von 1.100 Rubel hinweist. Mit Bescheid vom 6. Juni 2004 bewilligte der Beigeladene der Klägerin für Juni 2004 358,33 EUR (Regelbedarf: 285,00 EUR; Unterkunft: 58,75 EUR; Heizungskosten: 17,94 EUR abzüglich Warmwasseranteil 3,36 EUR). Das Einkommen wurde mit 0,00 EUR berechnet. Mit Bewilligungsbescheid vom 23. Juli 2004 erhielt die Klägerin von der Agentur für Arbeit D. wöchentlich 124,95 EUR Eingliederungshilfe. Der Beigeladene stellte mit Bescheid vom 9. August 2004 Leistungen ab 1. August 2004 ein, da die Klägerin Eingliederungshilfe bezog.
Die Klägerin stand vom 1. Januar 2005 bis zum 30. April 2010 im SGB II-Leistungsbezug des Beklagten. Am 23. November 2004 stellte sie ihren Erstantrag. Unter "VI. Einkommens-verhältnisse des Antragstellers/der Antragstellerin und der im Haushalt lebenden weiteren Personen" war auf Seite 3 aufgeführt:
"Als Einkommen sind alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen. Haben Sie und/oder die mit Ihnen im Haushalt lebenden Angehörigen Einnahmen aus: Nichtselbständiger oder selbständiger Arbeit, Vermietung oder Verpachtung, Land- und Forstwirtschaft, Kindergeld, Entgeltersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, Übergangsgeld, Krankengeld, Renten aus der Sozialversicherung, Betriebsrenten oder Pensionen, ( ), sonstige laufende oder einmaligen Einnahmen gleich welcher Art?"
Hierzu finden sich die kursiv gedruckten handschriftlichen Eintragungen:
"Name, Vorname P., I., Art des Einkommens Eingliederungshilfe"
In einem in Auszügen vorgelegten Mietvertrag verpflichtete sich die Klägerin gegenüber der D. Wohnungsbaugesellschaft mbh, für eine 40 qm Wohnung einen Mietzins von 178,00 EUR zuzüglich 7,99 EUR (Kabelgebühr) und eine Betriebskostenvorauszahlung von 24,00 EUR zu zahlen. Unter dem 1. September 2004 vereinbarte die Klägerin mit der D. Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft mbH. für Fernwärme eine monatliche Abschlagszahlung von 40,00 EUR sowie für Strom und Wasser von je 20,00 EUR.
Mit Erstbescheid vom 26. November 2004 bewilligte der Beklagte der Klägerin für den Zeitraum vom...