Leitsatz
Es kann offenbleiben, ob die Verwendung des Begriffs "ruhestörender Lärm" in einer Bußgeldvorschrift dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot entspricht. Jedenfalls setzt die Verhängung einer Geldbuße gegen einen Mieter wegen der Verursachung von ruhestörendem Lärm (hier: Musikausübung) durch ein Gericht voraus, dass in der Entscheidung präzisiert wird, was unter ruhestörendem Lärm zu verstehen ist.
(Leitsatz der Redaktion)
Normenkette
BerlLImSchG § 4
Kommentar
Es ging um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen sonntägliches Klavierspiel als ruhestörender Lärm im Sinne des Berliner Landesimmissionsschutzgesetzes (BerlLImSchG) bewertet werden kann. Der Mieter bewohnt ein Reihenhaus. Die 16-jährige Tochter des Mieters spielt jeden Tag am späten Nachmittag – auch an Sonntagen – etwa eine Stunde lang Klavier, im Entscheidungsfall Präludien von Bach. Hierdurch fühlte sich der Nachbar des Mieters gestört. Dieser rief nach etwa einer halben Stunde die Polizei. Der Polizeibeamte empfand das Klavierspiel ebenfalls als störend. Gegen den Mieter wurde ein Bußgeldbescheid erlassen, gegen den der Mieter Einspruch eingelegt hat. Das Amtsgericht hat den Einspruch im Wesentlichen zurückgewiesen und ausgeführt, durch die Aussage des Polizeibeamten stehe fest, dass die Musikdarbietung störend gewesen sei. Die vom Mieter eingelegte Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
Nach dem Berliner Landesimmissionsschutzgesetz ist es verboten, an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen "Lärm zu verursachen, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird" (§ 4 BerlLImSchG). Zuwiderhandlungen können als Ordnungswidrigkeiten verfolgt werden (§ 15 Abs. 1 Nr. 4 BerlLImSchG). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) befasst sich zunächst mit der Frage, ob der Tatbestand des § 4 BerlLImSchG mit Art. 103 Abs. 2 GG im Einklang steht. Nach dieser Vorschrift kann eine Tat "nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". Hieraus wird u. a. das verfassungsrechtliche "Bestimmtheitsgebot" abgeleitet. Dieses besagt, dass Strafvorschriften, zu denen auch die Bußgeldtatbestände zählen, so zu fassen sind, dass der Bürger genau erkennen kann, wo das rechtmäßige Verhalten endet und die Strafbarkeit beginnt. Die Regelung des § 4 BerlLImSchG enthält zwei Tatbestandselemente, durch die das Bestimmtheitsgebot tangiert wird, nämlich den Begriff des Lärms und den Begriff der erheblichen Ruhestörung.
Das BVerfG führt aus, dass die Verwendung des Begriffs "Lärm" dem Bestimmtheitsgebot genügt. Beim Begriff der "erheblichen Ruhestörung" sei dies fraglich. Es hat dies aber offengelassen und ausgeführt, dass die Entscheidung des Amtsgerichts auch dann verfassungswidrig ist, wenn der Begriff des "ruhestörenden Lärms" mit dem Bestimmtheitsgebot im Einklang steht. Dieses Tatbestandsmerkmal sei jedenfalls auslegungsbedürftig. Deshalb muss das Gericht präzisieren, was unter ruhestörendem Lärm zu verstehen ist. Dies habe das Amtsgericht unterlassen. Stattdessen habe es sich die Bewertungen des Polizeibeamten zu eigen gemacht. Dies sei jedoch nicht zulässig.
Auch für bundesrechtliche Auslegung
Die Entscheidung hat eine über den Geltungsbereich des BerlLImSchG hinausreichende Bedeutung, weil der Tatbestand des bundesgesetzlichen § 117 OWiG ähnlich strukturiert ist. Danach handelt ordnungswidrig, "wer ... in einem unzulässigen ... Ausmaß Lärm erregt, der geeignet ist, die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich zu belästigen ... ".
Link zur Entscheidung
BVerfG, Beschluss v. 17.11.2009, 1 BvR 2717/08, NJW 2010 S. 754