Rz. 39
Ihre Anwendbarkeit zwecks Lückenfüllung ist kaum fraglich, wenn auch nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt. Die Mehrheit in der Literatur bejaht sie, ebenso der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung sowie das Bundesarbeitsgericht. Neuerdings wird ihre Zulässigkeit aus §§ 133 und 157 BGB als Teilen des dispositiven Rechts abgeleitet.
Rz. 40
Zu den Voraussetzungen ihrer Zulässigkeit gibt es beim Bundesgerichtshof zwei Auffassungen. Die ältere, mildere geht dahin, dass dispositives Recht fehlen muss und der ersatzlose Wegfall der Klausel nicht zu einer sachgerechten Lösung führen darf. Eine Regelung im dispositiven Recht kann fehlen, wenn ein Vertragstyp gesetzlich nicht geregelt ist oder wenn das Gesetz ihn zwar regelt, nicht aber die konkrete Frage. Dispositives Recht fehlt im Allgemeinen im Versicherungsrecht, sodass dort gleich eine ergänzende Vertragsauslegung stattfinden kann. Daran hält der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs nach wie vor fest.
Rz. 41
Der VIII. Zivilsenat hat seine Rechtsprechung indessen tendenziell verschärft. Danach soll eine ergänzende Vertragsauslegung nur geboten sein, wenn sich die Lücke nicht durch das dispositive Gesetzesrecht füllen lässt und dadurch ein Ergebnis entsteht, das den beiderseitigen Interessen nicht mehr in vertretbarer Weise Rechnung trägt, sondern das Vertragsgefüge einseitig zugunsten des Kunden verschiebt.
Des Weiteren kommt die ergänzende Vertragsauslegung in Betracht, wenn das dispositive Recht zu einem unangemessenen Ergebnis führen würde, weil im konkreten Fall die Interessenlage Sonderlösungen erfordert und das dispositive Recht hierfür nicht konzipiert ist. Dies ist also der Sonderfall, bei dem entgegen dem oben (siehe Rdn 38) Gesagten das dispositive Recht zu einem unangemessenen Ergebnis führen kann.
Rz. 42
Jedenfalls ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bislang die Anwendung des dispositiven Gesetzesrechts als vorrangig angesehen worden. Unvereinbar damit ist BGH NJW-RR 2010, 200 Rn 29, wonach bei Wegfall der "nichtigen" Klausel die gesetzliche Regelung gelte, "da eine ergänzende Vertragsauslegung vorliegend nicht in Betracht" komme.
Anwendungsfälle der ergänzenden Vertragsauslegung ergaben sich etwa aus der Unwirksamkeit folgender Klauseln: Kündigungsausschluss in Unterrichts- oder Internetverträgen, Garantien, Zinsanpassungsklauseln, Preisanpassungsklauseln, Regelung der Abschlusszahlung beim Leasing, Zuzahlungsklausel im Einheimischenmodell, Allgemeine Versicherungsbedingungen, Tagespreisklauseln, Zweckerklärungen für Grundschulden, Verpflichtung zur Gestellung einer Bürgschaft auf erstes Anfordern.
Rz. 43
Maßstab für die ergänzende Vertragsauslegung sind nicht der Wille der konkreten Vertragsparteien und die Umstände des konkreten Einzelfalls, sondern der Wille und das Interesse der an solchen Rechtsgeschäften typischerweise beteiligten Verkehrskreise. Es handelt sich um einen objektiv-generalisierenden Maßstab. Dieser Umstand führt auch dazu, dass das Ergebnis einer solchen ergänzenden Vertragsauslegung revisionsgerichtlich voll nachprüfbar ist; im Interesse der Rechtssicherheit ist eine allgemein verbindliche hypothetische Auslegung unabhängig von den konkreten Parteiinteressen erforderlich.
Rz. 44
Eine ergänzende Vertragsauslegung ist ausgeschlossen, wenn die in der Klausel enthaltene Regelung als vom Verwender bewusst abschließend gewählt anzusehen ist, denn dann ist eine Vertragslücke nicht anzunehmen. So verhält es sich, wenn er die Klausel in Kenntnis entgegenstehender Rechtsprechung weiterverwendet. Die ergänzende Vertragsauslegung ist auch dann ausgeschlossen, wenn der Verwender die Anwendung der §§ 307–309 BGB und damit die Lücke ohne Weiteres voraussehen konnte.
Rz. 45
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs scheidet eine ergänzende Vertragsauslegung auch dann aus, wenn zur Ausfüllung der Lücke verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten in Betracht kommen, aber kein Anhaltspunkt dafür besteht, welche Regelung die Parteien getroffen hätten. Indessen werden viele denkbare Möglichkeiten hierbei als rein theoretisch ausscheiden, wenn man den oben beschriebenen objektiv-generalisierenden Maßstab und redliche Vertragsparteien zugrunde legt. Auch sind Massenverträge "auf einer höheren Abstraktionsebene" ohne Rücksicht auf Anhaltspunkte für eine bestimmte Lösung zu ergänzen.