Prof. Dr. Barbara E. Reinhartz, Dr. Paul Vlaardingerbroek
Rz. 123
Sofern die Eltern sich nicht einvernehmlich über das Umgangsrecht einigen können, kann das Gericht diesbezüglich eine Entscheidung treffen. Jeder nicht mit der elterlichen Sorge betraute Elternteil hat grundsätzlich Anspruch auf Umgang mit seinem Kind und auf Informationen über sein Kind (Art. 8 EMRK und Art. 1:247 und 1:377a BW). Das Umgangsrecht ist folglich von der Scheidungssituation losgelöst und nicht länger geschiedenen Eltern vorbehalten. Weiterhin ist es in allen anderen Situationen von Bedeutung, in welchen Eltern und Kind keinen Kontakt mehr zueinander haben. Das Kind und der nicht sorgeberechtigte Elternteil haben das Recht auf Umgang miteinander (Art. 1:377a Abs. 1 BW). Das Umgangsrecht ist als wechselseitiges Recht sowohl des Elternteils als auch des Kindes formuliert. Es bleibt unabhängig vom Zivilstand der Eltern. Voraussetzung ist, dass eine familienrechtliche Beziehung vorliegt.
Rz. 124
Betroffene (Eltern und Kind) können eine Umgangsregelung vereinbaren und es bleibt ihnen überlassen, wie sie konkrete Absprachen durchführen. Es handelt sich um ein gesetzliches Recht, unabhängig davon, ob eine richterliche Entscheidung vorliegt. Die Eltern können sich zur Regelung des Umgangsrechts auch an den Richter wenden. Der Richter entscheidet über das zeitlich beschränkte oder unbeschränkte Umgangsrecht der Eltern oder eines Elternteils (Art. 1:377a Abs. 2 BW). In seiner richterlichen Entscheidung über das Umgangsrecht kann der Richter eine (sehr) detaillierte Regelung festlegen, in welcher bspw. Abhol- und Rückgabezeitpunkte, Dauer und/oder Intensität des Umgangsrechts enthalten sind. Bereits während des Ehescheidungsverfahrens kann im Rahmen vorläufiger Maßnahmen eine Umgangsregelung getroffen werden. Das Rechtsmittel der Berufung ist dann aber nicht zulässig (Art. 824 Abs. 1 Rv). Diese Umgangsregelung gilt, bis die elterliche Sorge gem. Art. 1:253p BW begonnen hat (Art. 826 Abs. 1 sub b Rv). Bei der Scheidung selbst kann im Rahmen von begleitenden Maßnahmen eine Regelung über den Umgang getroffen werden (Art. 827 Abs. 1 sub c Rv). Ein Antrag auf Feststellung einer Umgangsregelung oder Entzug derselben – wie in Art. 1:377a BW angesprochen – kann allerdings auch noch (Jahre) nach der Scheidung erstmals gestellt werden. Die Zweite Kammer des Parlaments hat im April 2016 einen Entwurf zur Regelung des Umgangsrechts von Großeltern mit Enkelkindern abgelehnt. Der Minister von Sicherheit und Justiz hat vorgeschlagen, stattdessen die Umgangsregelungen von Großeltern und anderen Familienmitgliedern in den Elternschaftsplan einzubeziehen. Wenn die Großeltern eine enge Beziehung zu den Kindern haben (nauwe persoonlijke betrekking, also mehr als ab und zu die Enkelkinder zu Besuch haben), dann können sie eventuell eine Umgangsregelung über den Richter bewirken, siehe Art. 1:377a BW.
Rz. 125
In den Niederlanden gibt es auch Umgangshäuser, in denen versucht wird, den Umgang mit dem anderen Elternteil wieder aufzubauen oder – bei Angst vor Missbrauch, Misshandlung, Entführung usw. – den Umgang mit dem Kind oder den Kindern zu sichern. In manchen Fällen gelingt es, ein strafrechtliches Verfahren gegen den Elternteil einzustellen, der den Umgang zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil untergräbt (z.B. mit einer Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit von 60 Stunden). Leider ist es oftmals nicht möglich, bei einem den Umgang ablehnenden Elternteil gleichwohl den Umgang zu realisieren, auch nicht mit Zwangsgeld, zivilrechtlicher Haft, Kinderschutzmaßnahmen, Änderung des Wohnsitzes des Kindes, Unterbrechung der Unterhaltszahlung usw. (siehe auch Rdn 76 ff.).
Rz. 126
Im Scheidungsverfahren und bei Streit um den Umgang wird immer häufiger die Einsetzung eines sog. bijzondere curator (eines Rechtsanwalts oder Verhaltensforschers gem. Art. 1:253a BW oder Art. 1:250 BW) durch den Richter vorgeschlagen, der das Kind unterstützt und versucht, mit beiden Eltern eine Lösung des Konflikts zu finden.
Rz. 127
Im Rahmen der Abwägung der Interessen sämtlicher vom Umgangsrecht betroffenen Personen sind die Kindesinteressen vorrangig zu behandeln. In diesem Zusammenhang ist nicht die Frage zu beantworten, ob der Umgang im Interesse des Kindes liegt (d.h.: gut ist für das Kind), sondern im Mittelpunkt steht die Frage, ob der Umgang mit dem Kind verweigert werden muss, weil einer oder mehrere Verweigerungsgründe vorliegen (‘schlecht ist für das Kind’). Der Richter kann das Recht auf Umgang nur verweigern, wenn
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der Umgang einen ernsthaften Nachteil für die geistige oder körperliche Entwicklung des Kindes zur Folge haben würde oder |
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ein Elternteil offensichtlich ungeeignet oder nicht in der Lage ist, das Umgangsrecht auszuüben, oder |
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das 12 Jahre alte oder ältere Kind bei der Einvernahme ernsthafte Bedenken gegen den Umgang mit seinem Elternteil vorbringt oder |
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der Umgang aus sonstigen Gründen gegen schwerwiegende Interessen des Kindes verstößt (Art. 1:377a Abs. 3 BW). |