Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Änderung bestandskräftiger Umsatzsteuerbescheide unter Berufung auf die sog. Emmott'sche Fristenhemmung
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Verfahren zur Geltendmachung subjektiver Gemeinschaftsrechte (z.B. Erstattung zuviel gezahlter Abgaben) richtet sich grundsätzlich nach den nationalen Verfahrensvorschriften. Diese Bedingungen dürfen nicht ungünstiger sein als diejenigen für entsprechende nur nationales Recht betreffende Klagen.
2. Es verstößt weder gegen den Grundsatz der Effektivität noch der Gleichwertigkeit des Gemeinschaftsrechts, wenn die nationale Rechtsordnung eine Änderung im Widerspruch zur Gemeinschaftsrechtsordnung bestehender Steuerbescheide versagt, wenn nach den Vorschriften der §§ 169 ff. AO Bestandskraft bzw. Festsetzungsverjährung eingetreten ist.
3. Unter Berufung auf die sog. Emmott'sche Fristenhemmung kann die Änderung bestandskräftiger Umsatzsteuerbescheide nicht begehrt werden.
Normenkette
AO § 347 Abs. 1 S. 1, § 355 Abs. 1 S. 1
Streitjahr(e)
1993
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin ist Automatenaufsteller und erzielt Umsätze aus dem Betrieb von gewerblichen Geldspielgeräten i.S.v. § 33c GewO und Unterhaltungsautomaten. Die Anzahl der Unterhaltungsautomaten macht 54 v.H. der gesamten Automaten der Klägerin aus.
Im Jahre 1993 erzielte die Klägerin einen Umsatz von 452.306 DM, wovon 407.205,59 DM auf den Betrieb von gewerblichen Geldspielgeräten und 45.101,03 DM auf den Betrieb von Unterhaltungsautomaten entfielen. Der Vorsteueranspruch betrug 22.230,89 DM.
Der Beklagte folgte der am 16.09.1994 eingegangenen Erklärung der Klägerin und setzte die Umsatzsteuer auf 45.615,10 DM fest. Die Festsetzung wurde bestandskräftig.
Nachdem der EuGH mit Urteil vom 17.02.2005 (Rs. C- 453/02 – Linneweber, UR 2005, 194 mit Anm. Birk/Jahndorf, UR 2005, 198) entschieden hatte, dass der Betrieb von Geldspielautomaten außerhalb von öffentlichen Spielbanken steuerfrei zu stellen ist, wenn – wie in Deutschland – der Betrieb von Geldspielautomaten in öffentlichen Spielbanken ebenfalls umsatzsteuerbefreit ist, legte die Klägerin mit Schreiben vom 17.03.2005 Einspruch ein mit dem Antrag, die Umsätze aus dem Betrieb der gewerblichen Geldspielgeräte steuerfrei zu behandeln. Sie beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter Hinweis auf die Rechtssache Emmott (EuGH, Urteil vom 25.07.1991 - Rs C-208/90, UR 1993, 315).
Der Beklagte hat den Einspruch mit Einspruchsbescheid vom 27.07.2005 als unzulässig (verfristet) verworfen und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt.
Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin trägt vor, der Einspruch sei abweichend von § 355 Abs. 1 Satz 1 AO nicht als verfristet anzusehen. Im vorliegenden Fall komme es ausnahmsweise nicht auf die Bekanntgabe als fristauslösendes Moment an, weil die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verpflichtung nach Art. 10 EGV nicht nachgekommen sei, die Umsatzsteuerbefreiung gem. Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-Richtlinie ordnungsgemäß in nationales Recht umzusetzen. Infolgedessen sei die Rechtsbehelfsfrist gehemmt (sog. Emmott'sche Fristenhemmung oder - zutreffender - Anlaufhemmung).
Die Anlaufhemmung komme nicht nur bei treuwidrigen Verhalten von öffentlichen Stellen (Fall Emmott) in Betracht, sondern auch in Fällen wie dem vorliegenden, in denen dem Bürger die Geltendmachung seiner Rechte durch zu kurze Rechtsbehelfsfristen erheblich erschwert bzw. sogar vereitelt würde.
Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten finde in Art. 10 EGV (Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts) ihre Grenze, wenn die effektive (auch rückwirkende) Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht (Effektivitätsgebot) zugunsten des Bürgers durch nationale Bestimmungen unzumutbar erschwert oder vereitelt würde.
Im vorliegenden Fall stehe das nationale Verfahrensrecht der Durchsetzung einer Mindesteffektivität des Gemeinschaftsrechts entgegen: Zum einen stelle das steuerspezifische, duale Korrektursystem der Abgabenordnung (§§ 130, 131 bzw. §§ 172 ff AO) eine gesetzessystematische, unzumutbare Erschwernis der rückwirkenden Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht dar (1.). Zum anderen genüge die Monatsfrist für die Anfechtung von Steuerbescheiden in Fällen nicht ordnungsgemäß umgesetzter Richtlinien nicht dem Angemessenheitsmaßstab des Effektivitätsgebotes (2.).
1. Die gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen zur Korrektur von bestandskräftigen Steuerbescheiden (§§ 172 - 176) sähen keine Möglichkeit vor, einen rechtswidrigen bestandskräftigen Steuerbescheid allein deswegen zu korrigieren, weil er gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße. Damit habe der Gesetzgeber ein Korrektursystem für Steuerbescheide geschaffen, das von dem Korrektursystem für allgemeine Steuerverwaltungsakte (§§ 130, 131 AO) und dem Korrektursystem des allgemeinen Verwaltungsrechts (§§ 48, 49, 51 Verwaltungsverfahrensgesetz - VwVfG -) abweiche.
Nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG stehe es im...