Beispielsfall:
Die 60 Jahre alte Mutter übertrug 1997 ihrem verheirateten Sohn ein Hausgrundstück, wobei sie sich ein Wohnrecht vorbehielt. Im Jahre 2017 beantragten die Eheleute die Scheidung. Die Mutter lebte bei Zustellung des Scheidungsantrags noch.
Das Grundstück hatte nach den eingeholten Gutachten im Jahr 1996 einen Wert von 300.000 EUR (bereits indexiert) und 2017 von 360.000 EUR.
1. Die frühere Rechtsprechung von 1990 bis 2006
Der Wert des übertragenen Grundstücks – und damit auch das Endvermögen des ausgleichsverpflichteten Ehegatten – steigt dadurch, dass die Wohnrechts- oder Nießbrauchbelastung infolge der abnehmenden Lebenserwartung des Wohnberechtigten absinkt. Dieser Vermögenszuwachs wurde von den Eheleuten nicht gemeinsam "erwirtschaftet". Der Ehepartner hat hierzu nichts beigetragen. Die Wertsteigerung beruht auf persönlichen Beziehungen des erwerbenden Ehegatten zu dem Zuwendenden. Der Gesetzgeber empfand einen Vermögenszuwachs dieser Art – so der BGH – nicht als einen Erwerb, an dem der andere Ehegatte im Rahmen des Zugewinnausgleichs beteiligt werden soll. Im Beispielsfall hat der Sohn das Hausgrundstück von vornherein mit der sicheren Aussicht erworben, dass die vereinbarte Belastung durch das Wohnrecht seiner Mutter einmal wegfällt.
Zum Ausgleich wird der Vermögenszuwachs, der im Endvermögen durch den Wertanstieg des Grundstücks eintritt, als privilegierter Erwerb gemäß § 1374 Abs. 2 BGB dem Anfangsvermögen hinzugerechnet – so die Rechtsprechung des BGH von 1990 bis 2006. Die Grundstücksbelastung ist dann im Anfangs- und Endvermögen gleich hoch. Im Ergebnis führt dies dazu, dass die Belastung durch ein Wohnrecht oder einen Nießbrauch im Anfangs- und Endvermögen ganz unberücksichtigt bleiben kann.
2. Die Änderung der Rechtsprechung des BGH ab 2006
Der Familiensenat hatte mit Urteil vom 22.11.2006 seine einfache und sehr praxisfreundliche Rechtsprechung zur Bewertung eines Wohnrechts oder Nießbrauchs aufgegeben und entschieden, dass die Grundstücksbelastung im Anfangs- und Endvermögen nicht mehr unberücksichtigt bleiben könne, sondern jeweils der aktuelle Wert ermittelt werden müsse.
Zusätzlich müsse auch noch "der fortlaufende Wertzuwachs der Zuwendung aufgrund des abnehmenden Werts des Wohnrechts" ermittelt und bewertet werden, "um den gleitenden Erwerbsvorgang zu erfassen und vom Ausgleich ausnehmen zu können“."
Die Entscheidung des BGH, zusätzlich einen gleitenden Vermögenserwerbs“ zu ermitteln, ist in der familiengerichtlichen Praxis auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen und wurde heftig kritisiert.
Erfreulicherweise hat der BGH seine Rechtsprechung wieder geändert. Entscheidend dafür war letztlich ein Aufsatz von Gutdeutsch in der FamRZ. Gutdeutsch hatte nachgewiesen, "dass die alte Rechtsprechung zutraf und dass die Abweichung von derselben auf Fehlern bei der Indexumrechnung beruht".
3. Die jetzige Rechtsprechung des BGH
Aufgrund der überzeugenden Darlegung von Gutdeutsch ist der BGH am 6.5.2015 wieder zu seinen Wurzeln von 1990 zurückgekehrt und hat in den Leitsätzen 1 und 2 entschieden:
Zitat
1. Ist Vermögen, das ein Ehegatte mit Rücksicht auf ein künftiges Erbrecht erwirbt, zugunsten des Übergebers mit einem Nießbrauch belastet, unterliegt der fortlaufende Wertzuwachs der Zuwendung aufgrund des abnehmenden Werts des Nießbrauchs für den dazwischen liegenden Zeitraum bzw. die Zeit zwischen dem Erwerb des Grundstücks und dem Erlöschen des Nießbrauchs nicht dem Zugewinnausgleich.
2. Um diesen Wertzuwachs im Zugewinnausgleich rechnerisch zu erfassen, ist eine auf einzelne Zeitabschnitte aufgeteilte Bewertung des gleitenden Erwerbsvorgangs nicht erforderlich. Das gleiche Ergebnis kann vielmehr schon dadurch erreicht werden, dass bei der Berechnung des Zugewinns des Zuwendungsempfängers auf ein Einstellen des Wertes des Nießbrauchs zum Ausgangs- und Endzeitpunkt in die Vermögensbilanz insgesamt verzichtet wird.
Festzuhalten ist somit: Es gibt keinen "zusätzlichen gleitenden Vermögenserwerb". Die Grundstücksbelastung durch ein Wohnrecht oder einen Nießbrauch kann – im "Regelfall" – wieder beim Anfangs- und Endvermögen unberücksichtigt bleiben.