Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulässige Berufungsverwerfung bei attestierten "medizinischen Gründen"
Leitsatz (amtlich)
1. Der Begriff der 'genügenden Entschuldigung' darf nicht eng ausgelegt werden. Denn § 329 I 1 StPOenthält eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass ohne den Angeklagten nicht verhandelt werden darf. Die Regelung birgt nicht nur die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich, sondern auch, dass dem Angeklagten das ihm nach Art. 103 I GGverfassungsrechtlich verbürgte rechtliche Gehör entzogen wird (Festhaltung u.a. an OLG Bamberg, Urteil vom 26.02.2008 - 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29und [für § 74 II OWiG] OLG Bamberg, Beschluss vom 28.11.2011 - 3 Ss OWi 1514/11 = OLGSt StPO § 329 Nr. 31).
2. Die Entschuldigung ist 'genügend', wenn die abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Erscheinenspflicht andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen. Entscheidend ist nicht, ob sich der Angeklagte genügend entschuldigt hat, sondern ob er (objektiv) genügend entschuldigt ist. Den Angeklagten trifft daher hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder gar zu einem lückenlosen Nachweis. Vielmehr muss das Gericht, wenn ein konkreter Hinweis auf einen Entschuldigungsgrund vorliegt, dem im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nachgehen. Bloße Zweifel an einer 'genügenden Entschuldigung' dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen (Festhaltung u.a. an BGHSt 17, 391/396 f.; BGHR StPO § 329 Abs. 1 Satz 1 Ladung 1; BayObLGSt 2001, 14/16; 1998, 79/81; BayObLG, Beschluss vom 19.10.2004 - 1 Ob OWi 442/04; OLG Bamberg, Urteil vom 26.02.2008 - 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29sowie [jeweils zu § 74 II OWiG] OLG Bamberg wistra 2007, 79 f. und NStZ-RR 2009, 150; OLG Braunschweig, Beschluss vom 25.03.2010 - 3 Ss (OWiZ) 37/10 [bei [...]]; KG DAR 2011, 146f. und OLG BambergNZV 2011, 409 f.).
3. Die Nachforschungsverpflichtung des Gerichts ist andererseits nicht grenzenlos. Ihre Auslösung setzt nach dem Gesetzeszweck (wenigstens) voraus, dass der Angeklagte vor der Hauptverhandlung (schlüssig) einen Sachverhalt vorträgt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen (Festhaltung u.a. an OLG Bamberg, Urteil vom 26.02.2008 - 3 Ss 118/07 = OLGSt StPO § 329 Nr. 29sowie [jeweils zu § 74 II OWiG] OLG Bamberg wistra 2007, 79 f. und NStZ-RR 2009, 150).
4. Wird als Entschuldigungsgrund eine Erkrankung geltend gemacht, ist für seine Schlüssigkeit die Darlegung eines behandlungsbedürftigen und/oder Arbeitsunfähigkeit bewirkenden krankheitswertigen Zustandes erforderlich aber auch ausreichend. Geschieht dies durch die (gleichzeitige) Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, braucht aus dieser die Art der Erkrankung jedenfalls solange nicht zu entnehmen sein, als Gründe dafür, dass die Bescheinigung als erwiesen falsch oder sonst als offensichtlich unrichtig anzusehen sein könnte oder nicht von dem bezeichneten Aussteller herrührt, fehlen (Festhaltung u.a. an BayObLGSt 1998, 79 ff. und OLG Bamberg NStZ-RR 2009, 150).
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; StPO §§ 300, 329 Abs. 1 S. 1, § 344 Abs. 2 S. 2
Tatbestand
Wegen Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse in zwei Fällen verurteilte das AG den Angekl. zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen. Seine Berufung hat das LG mit Urteil vom 07.12.2012 in Anwesenheit des Verteidigers des Angekl. ohne Verhandlung zur Sache nach § 329 I 1 StPO verworfen. Zwar sei am Morgen des Hauptverhandlungstages noch ein Schreiben des Angekl. bei Gericht eingegangen, in welchem er um Terminsverlegung ersuche, da er "aus gesundheitlichen Gründen die Verhandlung nicht wahrnehmen könne". Auch habe der Angekl. seinem Schreiben eine ärztliche Bescheinigung mit beigelegt, wonach der Angeklagte "aus medizinischen Gründen derzeit nicht in der Lage" sei, "an einer Gerichtsverhandlung am 07.12.2012 teilzunehmen". Jedoch genüge die vorgelegte ärztliche Bescheinigung "zur Glaubhaftmachung einer Verhandlungsunfähigkeit oder Reiseunfähigkeit des Angekl. in keiner Weise", da sich aus dieser zum einen schon nicht ersehen lasse, "ob bei dem Angekl. eine Krankheit" vorliege. Selbst wenn man diese unterstelle, so enthalte die Bestätigung "keine konkreten Angaben über die Erkrankung". Die "Überprüfung des Attests" sei dem Gericht "nicht möglich" gewesen, "da die ausstellende Praxis am Verhandlungstag nicht geöffnet war". Gegen dieses seine Berufung verwerfende Urteil wendet sich der Angekl. mit seiner Revision, mit der er bereits im Rahmen der bei Gericht am 14.12.2014 eingegangenen Einlegungsschrift seines Verteidigers vom 13.12.2012, mit der er neben der Antragstellung auf Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Sache "die Verletzung des materiellen Rechts [...], insbesondere die fehlerhafte Anwendung des § 329 StPO, nachdem der Angekl. hinreichend entschuldigt" gewesen sei, rügt, und die er mit weiterem am 14.01.2013 eingegangenem Schriftsatz vom selben Tage "unter gleichzeitiger Erhebung der allgemeinen Sac...