Entscheidungsstichwort (Thema)
Wahlverteidiger. Wahlmandat. Pflichtverteidiger. Beiordnung. Bestellung. Pflichtverteidigerbestellung. Verteidigerwechsel. Berufung. Berufungskammer. Jugendkammer. Kollegialgericht. Beschwerde. sofortige. Entpflichtung. Vorsitzender. Kammervorsitzender. Zuständigkeit. funktionell. Auffangzuständigkeit. Richtigkeitsgewähr. konsensual. Missbrauch. Verfahrensverzögerung. Vertrauensschutz. Vertrauensverhältnis
Leitsatz (amtlich)
1. Entscheidet das Kollegialgericht anstatt der bzw. des nach § 142 Abs. 3 Satz 3 StPO zuständigen Kammervorsitzenden über die Pflichtverteidigerbestellung, so ist die Entscheidung auf eine zulässige sofortige Beschwerde hin aufzuheben. Eine Zurückverweisung der Sache an die oder den Vorsitzenden der Strafkammer ist jedoch regelmäßig nicht geboten. Das Beschwerdegericht hat vielmehr gemäß § 309 Abs. 2 StPO die in der Sache erforderliche Entscheidung selbst zu treffen.
2. Liegen die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vor, kommt eine Beiordnung des Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger des Angeklagten im Berufungsverfahren regelmäßig auch dann nicht in Betracht, wenn seine Erklärung, die Gebühren und Auslagen seien (nur) für die erste Instanz gesichert, zur Aufhebung der Bestellung des Pflichtverteidigers geführt hat. Im Falle der Beendigung des Mandates des Wahlverteidigers ist regelmäßig der frühere Pflichtverteidiger wieder zu bestellen.
Normenkette
AufenthG § 97 Abs. 2; StGB § 12; StPO § 140 Abs. 1 Nr. 2, § 142 Abs. 3 Nr. 3, Abs. 7 S. 1, §§ 143a, 238 Abs. 2, §§ 304, 309 Abs. 2, §§ 311, 473 Abs. 4
Tenor
I.
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss der Jugendkammer des Landgerichts aufgehoben.
II.
Der Antrag des Angeklagten, ihm Rechtsanwalt K. als Pflichtverteidiger zu bestellen, wird zurückgewiesen.
III.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
I.
Mit Beschluss vom 04.03.2020 hatte das Amtsgericht dem Angeklagten Rechtsanwalt W. als Pflichtverteidiger bestellt, nachdem jener die Person seines Pflichtverteidigers in das Ermessen des Gerichts gestellt hatte. Nachdem sich Rechtsanwalt K. mit Schriftsatz vom 21.08.2020 als Verteidiger angezeigt und mit Schriftsatz vom 22.10.2020 mitgeteilt hatte, dass seine Gebühren und Auslagen für die 1. Instanz gesichert seien, hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 26.10.2020 die Pflichtverteidigerbestellung von Rechtsanwalt W. aufgehoben. Mit Urteil des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - vom 17.12.2020 wurde der Angeklagte wegen banden- und gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in 9 Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren 6 Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil haben sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 17.02.2021 beantragte Rechtsanwalt K., dem Angeklagten für das Berufungsverfahren als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Das Landgericht, Jugendkammer, hat mit Beschluss vom 23.02.2021, der in der Besetzung mit 3 Richtern erging, den Antrag abgelehnt. Wegen der Einzelheiten wird auf dem Beschluss vom 23.02.2021 Bezug genommen. Gegen den am 02.03.2021 zugestellten Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seiner am 04.03.2021 beim Landgericht eingegangenen Beschwerde vom gleichen Tag. Die Generalstaatsanwaltschaft hat am 16.03.2021 beantragt die sofortige Beschwerde des Angeklagten kostenfällig als unbegründet zu verwerfen. Der Angeklagte hatte Gelegenheit zur Stellungnahme und äußerte sich mit Schriftsatz vom 05.04.2021.
II.
Die gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung statthafte sofortige Beschwerde des Angeklagten (§§ 142 Abs. 7 Satz 1, 304, 311 StPO) wurde form- und fristgerecht eingelegt.
1. Die sofortige Beschwerde hat insoweit einen Teilerfolg, als der Beschluss schon deshalb aufzuheben ist, weil die Jugendkammer des Landgerichts unter Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften als Kollegialgericht entschieden hat, obwohl nicht sie, sondern der Kammervorsitzende für den Erlass der angefochtenen Entscheidung funktionell zuständig war.
Funktionell zuständig für die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung war allein der Vorsitzende der Kammer (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO).
Die Entscheidung des Kollegialgerichts anstelle des zuständigen Vorsitzenden ist angesichts der eindeutigen gesetzlichen Regelung auch nicht als rechtlich unschädlich anzusehen. Anders als etwa mit der Regelung des § 238 Abs. 2 StPO in den Fällen verfahrensleitender Anordnungen des Vorsitzenden ist für die gemäß §§ 140 ff StPO zu treffenden Entscheidungen gerade keine Auffangzuständigkeit des gesamten Spruchkörpers vorgesehen. Auch die Erwägung, die Entscheidung durch den gesamten Spruchkörper biete eine höhere Richtigkeitsgewähr, vermag daran nichts zu ändern, da die Kammer zwar eine materiell richtige Entscheidung treffen mag, im Einzelfall dabei aber die Möglichkeit besteht, dass der an sich allein zuständige Vorsitzende überstimmt und der Betroffene damit seinem gesetzlichen Richter entzogen wird (vgl. OLG ...