Entscheidungsstichwort (Thema)
Geltung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots
Leitsatz (amtlich)
1. Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 Abs. 1 FamFG gilt nicht, wenn die Eltern zwar (auch) um das Aufenthaltsbestimmungsrecht streiten, nicht aber über den tatsächlichen Aufenthalt ihrer Kinder.
2. Kindschaftssachen, die den Aufenthalt eines Kindes betreffen, sind in erster Linie Verfahren, in welchen - insbesondere nach der Trennung der Eltern - um den künftigen Lebensmittelpunkt des Kindes gestritten wird. Aus dem Sinn und Zweck der §§ 155 ff FamFG ergibt sich nichts anderes, denn das Vorrang- und Beschleunigungsgebot soll in erster Linie verhindern, dass eine Entscheidung in der Sache durch bloßen Zeitablauf faktisch präjudiziert wird.
Normenkette
BGB § 1671 Abs. 1, § 1697a; FamFG § 155 Abs. 1, § 155b Abs. 2, § 155c Abs. 4
Verfahrensgang
AG Würzburg (Aktenzeichen 2 F 2346/19) |
Tenor
1. Die Beschleunigungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I. Der Antragsteller und die Antragsgegnerin sind die dauerhaft getrennt lebenden Eltern der Kinder E. (5 Jahre) und F. (4 Jahre) und streiten vorliegend darum, ob die elterliche Sorge für diese Kinder weiterhin gemeinsam oder künftig von der Antragsgegnerin allein ausgeübt wird. Die Kinder leben seit der Trennung ihrer Eltern im Haushalt der Mutter.
Die Antragsgegnerin, der am 25.04.2019 im Weg der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht für beide Kinder übertragen wurde (AG Würzburg 2 F 60/19), beantragt nach § 1671 Abs. 1 BGB die Übertragung der gesamten elterlichen Sorge auf sich.
Der Vater der Kinder beantragt die "Rückübertragung" des Aufenthaltsbestimmungsrechts. Er ist der Auffassung, dass es insgesamt bei der gemeinsamen Sorge zu verbleiben habe. Mit einem Verbleib der Kinder im Haushalt der Antragsgegnerin ist er ausdrücklich einverstanden.
Mit Schreiben vom 05.02.2023 erhob der Antragsteller Beschleunigungsrüge und monierte, das Verfahren werde nicht vorrangig und beschleunigt geführt. Sein Antrag stamme vom 18.12.2019.
Das Familiengericht, das nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und einer zwischenzeitlichen Verweisung an den Güterrichter mit Beschluss vom 24.08.2022 auf Antrag beider Seiten das Ruhen des Verfahrens angeordnet hatte, legte die Rüge als Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens aus und bestimmte Termin zur Verhandlung auf 20.04.2023.
Der Antragsteller erhob daraufhin mit am 08.03.2023 beim Oberlandesgericht eingegangenem Schreiben Beschleunigungsbeschwerde. Seiner Meinung nach hätte das Amtsgericht über die Rüge entscheiden müssen.
II. Die nach § 155c Abs. 4 FamFG grundsätzlich statthafte und auch form- und fristgerecht eingelegte Beschleunigungsbeschwerde ist nicht begründet und deswegen zurückzuweisen.
Zwar hat das Familiengericht innerhalb der Monatsfrist des § 155b Abs. 2 FamFG keine Entscheidung über die vom Antragsteller eingelegte Rüge getroffen. Allerdings gilt das Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 Abs. 1 FamFG im vorliegenden Verfahren nicht, weil die Eltern zwar (auch) um das Aufenthaltsbestimmungsrecht streiten, nicht aber über den tatsächlichen Aufenthalt ihrer Kinder.
1) Der Antragsteller ist (anders als noch im Verfahren AG Würzburg 2 F 60/19) mit dem weiteren Aufenthalt der gemeinsamen Kinder im Haushalt der Mutter ausdrücklich einverstanden. Damit liegt nach Auffassung des Senats keine Kindschaftssache nach § 155 Abs. 1 FamFG vor, "die den Aufenthalt der Kinder betrifft".
Der Aufenthalt der Kinder im Sinn der genannten Vorschrift wäre vielmehr nur dann betroffen, wenn durch gerichtliche Entscheidung zu regeln wäre, an welchem Ort die Kinder künftig tatsächlich leben werden.
Kindschaftssachen, die den Aufenthalt eines Kindes betreffen, sind in erster Linie Verfahren, in welchen - insbesondere nach der Trennung der Eltern - um den künftigen Lebensmittelpunkt des Kindes gestritten wird. Anwendbar ist die Vorschrift zudem in einem Verfahren auf Erlass einer Verbleibensanordnung (Heilmann in MüKo zum FamFG, 3. Auflage, 2018, § 155 Rn. 19).
Aus dem Sinn und Zweck der §§ 155 ff FamFG ergibt sich nichts anderes:
Denn das Vorrang- und Beschleunigungsgebot soll in erster Linie verhindern, dass eine Entscheidung in der Sache durch bloßen Zeitablauf faktisch präjudiziert wird (Lorenz in Zöller, ZPO, 34. Auflage, 2022, FamFG § 155 Rn. 2; BVerfG FamRZ 2019, 1929).
Im konkreten Fall aber ist das Wohl der gemeinsamen Kinder (§ 1697a BGB) durch die vom Gericht zu entscheidende Frage, ob das Aufenthaltsbestimmungsrecht künftig von den Eltern gemeinsam oder von der Antragsgegnerin allein ausgeübt wird, erkennbar nicht berührt. Die Entscheidung hat für sie nämlich keine tatsächlichen Auswirkungen.
2) Der von der Antragsgegnerin nach § 1671 Abs. 1 BGB gestellte Antrag, ihr die gesamte elterliche Sorge für beide Kinder allein zu übertragen, führt zu keiner anderen Bewertung.
Denn streiten die Eltern allein darüber, ob die gemeinsame elterliche Sorge aufgehoben w...