Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtbescheidung eines am Terminstag eingereichten Entbindungsantrags. Zulassungsrechtsbeschwerde. Hauptverhandlung. Termin. Terminstag. Verwerfungsurteil. Entbindungsantrag. Nichtbescheidung. Gehörsverstoß

 

Leitsatz (amtlich)

Auch wenn ein Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG erst am Sitzungstag kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid jedenfalls dann nicht ohne vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn der Antrag mit 'offenem Visier', also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht "versteckt" oder "verklausuliert" eingereicht und bei einer Übermittlung per Telefax an den Anschluss der für die betreffende Abteilung des Gerichts und in der gerichtlichen Korrespondenz angegebenen zuständigen Geschäftsstelle übersandt worden ist. Darauf, ob der Entbindungsantrag bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist, kommt es nicht an (u.a. Anschluss an OLG Bamberg, Beschl. v. 30.10.2007 - 2 Ss OWi 1409/07 = NStZ-RR 2008, 86 = NZV 2008, 259; 27.01.2009 - 2 Ss OWi 1613/08 = NStZ-RR 2009, 149 = ZfS 2009, 290 = NZV 2009, 355 = OLGSt OWiG § 74 Nr 2 und 29.12.2010 - 2 Ss OWi 1939/10 = NZV 2011, 409; OLG Naumburg, Beschl. v. 25.08.2015 - 2 Ws 163/15 [bei [...]]).

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; StPO § 344 Abs. 2 S. 2; OWiG § 73 Abs. 2; StVO § 23 Abs. 1a; OWiG § 74 Abs. 2, § 80

 

Tatbestand

Die Bußgeldstelle setzte gegen den Betr. mit Bußgeldbescheid vom 26.10.2016 wegen unerlaubter Benutzung eines Mobil- oder Autotelefons (§ 23 Ia StVO) eine Geldbuße von 60 Euro fest. Seinen hiergegen gerichteten Einspruch hat das AG in Abwesenheit des Betr. und seines Verteidigers mit Urteil vom 24.02.2017 nach § 74 II OWiG verworfen, weil der Betr. - ohne von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden worden zu sein - in der Hauptverhandlung unentschuldigt nicht erschienen sei. Mit seiner Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er beantragt, rügt der Betr. die Verletzung formellen und materiellen Rechts, insbesondere die Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das Rechtsmittel führte zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das AG.

 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen der gemäß § 344 II 2 StPO i.V.m. § 79 III 1 OWiG formgerecht gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) aufzuheben (§ 80 I Nr. 2, II Nr. 1 OWiG).

1. Der Anspruch des Betr. auf rechtliches Gehör ist dadurch verletzt worden, dass das AG den rechtzeitig vor dem auf den 24.02.2017 (Freitag), 11.40 Uhr angesetzten Hauptverhandlungstermin angebrachten, nämlich per Telefax am 24.02.2017 um 09.00 Uhr übermittelten und unter dem 23.03.2017 datierten Entbindungsantrag nicht verbeschieden und den Einspruch des Betr. deshalb in Unkenntnis des Antrags auf Entbindung rechtsfehlerhaft ohne Sachprüfung verworfen hat.

a) Nach § 73 II OWiG hat das Gericht den Betr. auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, er werde sich in der Hauptverhandlung nicht weiter zur Sache äußern, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhaltes nicht erforderlich ist. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag steht hierbei nicht im Ermessen des Gerichtes, vielmehr ist es verpflichtet, dem Antrag nachzukommen, sofern die Voraussetzungen des § 73 II OWiG vorliegen.

b) Auch dann, wenn der Entbindungsantrag nach § 73 II OWiG erst am Sitzungstag und nur kurz vor dem anberaumten Termin bei Gericht eingeht, darf der Einspruch des Betr. gegen den Bußgeldbescheid jedenfalls dann nicht ohne eine vorherige Entscheidung über den Antrag verworfen werden, wenn der Antrag - wie hier - mit 'offenem Visier', also nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht "versteckt" (OLG Hamm, Beschl. v. 19.05.2015 - 5 RBs 59/15 = NStZ-RR 2015, 259 = NZV 2016, 98) oder "verklausuliert" (OLG Rostock, Beschl. v. 15.04.2015 - 21 Ss OWi 45/15 = NJW 2015, 1770 m. zust. Anm. Leitmeier = NStZ-RR 2015, 289 = NZV 2015, 515; vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 25.04.2017 - 2 RBs 49/17 ["Gehörsrügefalle"; bei [...]]) eingereicht und bei einer Übermittlung per Telefax an den Faxanschluss der für die betreffende Abteilung des AG und in der gerichtlichen Korrespondenz angegebenen zuständigen Geschäftsstelle und nicht etwa nur an eine zentrale gerichtliche Faxeingangsstelle übersandt worden ist. Einer weiteren Hervorhebung der Eilbedürftigkeit, z.B. eines ausdrücklichen Hinweises auf den bereits am selben Tag anberaumten Hauptverhandlungstermin im Briefkopf, verbunden mit der ausdrücklichen Bitte um 'sofortige Vorlage' an den Referatsrichter, bedurfte es deshalb nicht mehr.

2. Darauf, dass der vom Verteidiger des Betr. verfasste Entbindungsantrag hier ausweislich des in den Akten niedergelegten Vermerks dem Vorsitzenden tatsächlich erst am 27.02.201...

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