Entscheidungsstichwort (Thema)
Anklage. Anklageerhebung. Nachtragsanklage. Eröffnungsbeschluss. Beschwerde. Beschwerdeberechtigung. Nebenklage. Nebenkläger. Berufung. Nebenklägerberufung. Kognitionspflicht. Tatort. Tatzeit. Tatbild. Tötung. Garantenstellung. Garantenpflicht. Hilfeleistung. Lebenssachverhalt. Tat. Tatbegriff. Tateinheit. Tatmehrheit. Tatidentität. Nämlichkeit. Prozessgegenstand. Rettungsbemühungen. Rettungsverhalten. Tod. Totschlag. Verkehrsunfall. Unfall. Unfallgeschehen. Unterlassen. Versuch. Zäsur. Umfang tatrichterlichen Kognitionspflicht hinsichtlich unterbliebener Rettungsbemühungen nach Verkehrsunfall
Leitsatz (amtlich)
Neben dem in der Anklage geschilderten eigentlichen Verkehrsunfallgeschehen unterliegt, selbst wenn es in der Anklage nicht beschrieben wird, auch das Rettungsverhalten des Unfallverursachers der Kognitionspflicht des erkennenden Gerichts nach § 264 StPO.
Normenkette
StGB §§ 13, 142, 212, 323c; StPO § 200 Abs. 1, §§ 203, 264 Abs. 1, § 306 Abs. 1, §§ 311, 314, 322 Abs. 1-2, § 395 Abs. 2 Nr. 1, § 400 Abs. 1
Tenor
I.
Auf die sofortige Beschwerde des Nebenklägers wird der Beschluss des Landgerichts vom 07.02.2022 aufgehoben, mit dem seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 30.08.2021 als unzulässig verworfen wurde.
II.
Die Sache wird zur inhaltlichen Entscheidung über die Berufung des Nebenklägers sowie hinsichtlich der Kosten des Rechtsmittels des Nebenklägers an das Landgericht zurückgeben.
Gründe
1. Durch Urteil des Amtsgerichts - Schöffengericht - wurde der Angeklagte am 30.08.2021 wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen infolge fahrlässiger Herbeiführung eines Verkehrsunfalls zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte am 03.09.2021 und der Nebenkläger, welcher mit Beschluss des Amtsgerichts vom 26.04.2021 als solcher zugelassen wurde, mit Schriftsatz seines Vertreters vom 06.09.2021, eingegangen beim Amtsgericht am gleichen Tag, jeweils Berufung eingelegt. Der Nebenkläger, der Vater des bei dem Unfallgeschehen getöteten Tatopfers, erstrebt eine Verurteilung des Angeklagten wegen (versuchten) Totschlags, weil dieser nach dem Unfall keine Rettungsmaßnahmen zugunsten des Verstorbenen eingeleitet habe.
Das Landgericht hat mit Beschluss vom 07.02.2022 die Berufung des Nebenklägers gegen das vorgenannte Urteil des Amtsgerichts als unzulässig verworfen, da eine Nachtragsanklage nicht erhoben worden sei und Anklagesatz sowie Eröffnungsbeschluss nur das eigentliche Unfallgeschehen umfassten, nicht jedoch das Verhalten des Angeklagten nach dem Unfall. Die Beschwerde des Nebenklägers sei somit nicht auf eine Verurteilung des Angeklagten wegen eines zur Nebenklage berechtigenden Straftatbestandes wegen der angeklagten Tat gerichtet.
Gegen diese ihm am 08.02.2022 zugestellte Entscheidung richtet sich die sofortige Beschwerde des Nebenklägers, welche mit Vertreterschriftsatz vom 15.02.2022 am gleichen Tag beim Landgericht eingegangen ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, auf die Beschwerde des Nebenklägers hin den Beschluss des Landgerichts vom 07.02.2022 aufzuheben. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Verteidiger des Angeklagten beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, der Vertreter des Nebenklägers beantragte Aufhebung des Beschlusses vom 07.02.2022.
2. Gegen die als Beschluss gemäß § 322 Abs. 1 StPO ergangene Entscheidung des Landgerichts vom 07.02.2022 ist die sofortige Beschwerde statthaft (§ 322 Abs. 2 StPO). Diese wurde form- und fristgerecht (§§ 306 Abs. 1, 311 StPO) und somit insgesamt zulässig eingelegt.
Sie erweist sich auch als begründet.
Der Nebenkläger hat die Berufung form- und fristgerecht eingelegt (§ 314 StPO). Er hat das Urteil auch nicht lediglich mit dem Ziel angefochten, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt oder dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverurteilung verurteilt werde, die nicht zum Anschluss als Nebenkläger berechtigt (§ 400 Abs. 1 StPO). Der Vorwurf des (versuchten) Totschlags durch den Nebenkläger an den Angeklagten bezieht sich auf ein nebenklagefähiges Delikt (§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO) und auf die gleiche Tat im Sinne des § 264 StPO, welche durch Erhebung der Anklage (§ 200 Abs. 1 StPO) und Eröffnungsbeschluss (§ 203 StPO) zum Gegenstand der richterlichen Kognitionspflicht geworden ist.
Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten eines Angeklag...