Leitsatz (amtlich)
1. Voraussetzung für einen Rücktritt vom Vertrag vor Fälligkeit gemäß § 323 Abs. 4 BGB ist, dass der künftige Eintritt der Rücktrittsvoraussetzungen aus der ex ante- Perspektive eines objektiven Beurteilers offensichtlich ist. Dabei ist ein sehr hohes Maß an Wahrscheinlichkeit zu fordern. Es darf keinen vernünftigen Zweifel über den Eintritt der Pflichtverletzung geben.
2. Der Rechtsgedanke des Art. 72 Abs. 2 CISG ist auch im Anwendungsbereich des § 323 Abs. 4 BGB zu berücksichtigen.
3. Die Bitte des Schuldners um eine Verlängerung der Leistungsfrist unter Berufung auf eine mit innerbetrieblichen Umständen begründete Unmöglichkeit der rechtzeitigen Leistungserbringung rechtfertigt noch nicht die Annahme einer ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung.
Normenkette
BGB § 323 Abs. 4; CISG Art. 72; ZPO § 533
Verfahrensgang
LG Aschaffenburg (Urteil vom 15.11.2021; Aktenzeichen 14 O 192/20) |
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Aschaffenburg vom 15.11.2021, Az. 14 O 192/20, wie folgt abgeändert:
a) Die Klage wird abgewiesen.
b) Die Klägerin wird verurteilt, folgende Willenserklärung abzugeben:
Hiermit bewillige ich die Löschung der zu meinen Gunsten im Grundbuch von X. unter Blatt 0001 BV, laufende Nummer 00 verzeichneten Grundbesitzes der Gemarkung X., Flurstück Nummer 0001/00, Nähe A.-Straße, Betriebsfläche, mit einer Größe von 146.787 m2 eingetragenen Vormerkung zur Sicherung des Anspruchs auf Auflassung des vorbezeichneten Grundbesitzes.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung hinsichtlich der Kosten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 15.657.550,88 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die klagende Stadt verlangt von der Beklagten die Rückabwicklung eines notariellen Grundstückstauschvertrags vom 28.07.2010 wegen eines von ihr mit Schreiben vom 02.04.2019 erklärten Rücktritts.
Die Beklagte betreibt auf einem zentral im Gemeindegebiet der Klägerin gelegenen Grundstück eine X-Fabrik. Mitte/Ende des vorletzten Jahrzehnts begannen zwischen den Parteien Verhandlungen über den Tausch von Grundstücken. Hintergrund der Verhandlungen war, dass die Klägerin auf dem Grundstück der Beklagten neuen Wohnraum schaffen und die Beklagte in einem neuen Industriegebiet der Klägerin neue Firmengebäude errichten wollte.
Im Verlauf der Verhandlungen wollte sich die Klägerin für die Ausrichtung der Landesgartenschau bewerben. Mit notarieller Urkunde vom 31.03.2009 (Anlage AS6, Bl. 106 ff. der Beiakte 5 U 260/19) räumte daher die Beklagte der Klägerin, beginnend ab 01.01.2011, unentgeltlich für die Dauer von 30 Jahren auf einem Teil ihres Betriebsgrundstücks (Flurnummer 0000/1) eine beschränkt persönliche Dienstbarkeit (Bepflanzungs-, Bebauungs- und Wegeerrichtungsrecht) für die Durchführung der Landesgartenschau ein und bewilligte deren Eintragung im Grundbuch. Am 01.04.2009 schlossen die Parteien privatschriftlich eine Vereinbarung (Anlage AS6, Bl. 105 der Beiakte 5 U 260/19), wonach die Beklagte die Aufhebung der am 31.03.2009 eingeräumten persönlichen Dienstbarkeit verlangen könne, falls bis 31.12.2009 zwischen den Parteien kein Tauschvertrag abgeschlossen werden sollte, der auch das mit der Dienstbarkeit belastete Grundstück umfasst, oder falls bis zu diesem Zeitpunkt zwischen den Parteien kein Pachtvertrag (zu bestimmten Bedingungen) über dieses Grundstück zustande kommen sollte. Eine Aufhebung der Dienstbarkeit verlangte die Beklagte in der Folgezeit jedoch nicht, obwohl bis 31.12.2009 weder ein Tauschvertrag noch ein Pachtvertrag abgeschlossen worden war. Vielmehr wurde der von der Dienstbarkeit betroffene Grundstücksteil an die Klägerin übergeben, die dort auch die Landesgartenschau ausrichtete. Die Eintragung der beschränkt persönlichen Dienstbarkeit in das Grundbuch erfolgte erst am 27.06.2019 (Anlage K8, Bl. 72 R der Akte).
Am 28.07.2010 schlossen die Parteien einen notariell beurkundeten Tauschvertrag (Anlage K1, Bl. 21 ff. d.A., URNr. S 1xxx/2010). Hierbei tauschte die Klägerin die im Grundbuch von X. auf Bl. 0005 vorgetragenen Flurstücke (0002, 0002-09, 0002/07, 0002/06, 0001/00) und die auf Bl. 0003 vorgetragenen Flurstücke (0004 u. 0002/00) gegen die im Grundbuch von X. auf Bl. 0001 vorgetragenen Flurstücke (010/5, 0006, 0007 und 0000/1) und die Fischereirechte (Fischereirechtsgrundbuch d. AG xx - ZWSt X. - Bd. xx, Bl. xxx) der Beklagten. Ferner verpflichtete sich die Klägerin, als Tauschaufgabe für die Grundstücke der Beklagten einen Betrag von 4 Mio. EUR und für die Fischereirechte einen Betrag von 51.000,- EUR zu bezahlen, wobei in der Folgezeit der letztgenannte Betrag von 51.000,- EUR auch bezahlt und...