Leitsatz (amtlich)
Zur Beurteilung der Aussagekraft eines anthropologischen Vergleichsgutachtens:
1.
Im Gutachten (und in den Urteilsgründen) ist offen zu legen, inwieweit die Häufigkeit eines einzelnen Merkmals in der Bevölkerung durch eine konkrete Wahrscheinlichkeitszahl angegeben werden kann oder ob es sich nur um mehr oder weniger genaue Anhaltswerte handelt, die den Beweiswert der Wahrscheinlichkeitsaussage relativieren.
2.
Zwar erfolgt die Berechnung der Gesamtwahrscheinlichkeit bei der Zusammenfassung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens der einzelnen festgestellten übereinstimmenden Merkmale nach dem Multiplikationssatz der Wahrscheinlichkeitslehre; dies gilt jedoch nur bei unkorrelierten, also voneinander unabhängig variierenden Merkmalen, nicht aber bei Merkmalen, die gehäuft kombiniert miteinander vorkommen.
3.
Selbst wenn ein Gutachter zu einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit der Täteridentität gelangt, reicht dies allein zur Identifizierung nicht aus; vielmehr müssen zur Überzeugung des Gerichts von der Täterschaft noch weitere Indizien hinzutreten.
4.
Wird z.B. durch die Ausstrahlung der Vergleichsbilder im Fernsehen oder durch sonstige Publikationen von vornherein eine Vorauswahl von besonders ähnlich aussehenden Personen aus der Gesamtbevölkerung getroffen, so sind die (auf dem Zufallsprinzip beruhenden) allgemeinen Wahrscheinlichkeitsregeln nicht mehr anwendbar.
Verfahrensgang
LG Braunschweig (Entscheidung vom 29.08.2005) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 29. August 2005 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig zurückgewiesen.
Gründe
Die Revision des Angeklagten hat Erfolg.
I.
Das Amtsgericht Seesen hatte den Angeklagten am 26. Februar 2005 wegen Diebstahls im besonders schweren Fall in Tatmehrheit mit Computerbetrug zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zu Bewährung ausgesetzt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Braunschweig mit Urteil vom 29. August 2005 verworfen.
Nach den Feststellungen des Landgerichts begab sich der Angeklagte am 28. August 2003 auf den Parkplatz der Innerste Talsperre, wo er oder ein unbekannt gebliebener Mittäter den Pkw VW GOLF, amtliches Kennzeichen ...., des Zeugen A. mittels Türblechstechens öffnete und eine unter dem Beifahrersitz versteckte Tasche mit persönlichen Papieren des Zeugen an sich nahm. Im weiteren Verlauf suchte der Angeklagte die Volksbank Filiale in B. auf, wo er unter Verwendung einer in der Tasche gefundenen EC Scheckkarte und der zugehörigen PIN Geheimnummer, die auf einer ebenfalls in der Tasche vorgefundene Visitenkarte notiert war, gegen 14.25 Uhr am Geldautomaten 500 EUR vom Konto des Zeugen A. in der Absicht abhob, das Geld für sich zu verwenden. Dabei wurde er von einer über dem Geldautomaten angebrachten Überwachungskamera gefilmt. Anschließend machte sich der Angeklagte auf den Nachhauseweg, wobei er über Werningerode fuhr und sich auf einem Parkplatz am Stadtrand der Tasche des Zeugen A. entledigte.
Gegen das Urteil wendet sich die der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er sowohl eine Verfahrensrüge als auch die unbeschränkte Sachrüge erhebt und die Aufhebung des Urteils sowie die Zurückweisung der Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts Braunschweig erstrebt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision gem. § 349 Abs.2 StPO zu verwerfen.
II.
Die Revision ist in zulässiger Weise eingelegt und begründet worden. Sie hat schon auf die allgemein erhobene Sachrüge hin Erfolg. Das Urteil hat keinen Bestand, weil sich den Urteilsgründen nicht entnehmen lässt, ob die für anthropologische Vergleichsgutachten geltenden Grundsätze berücksichtigt und die Grenzen von deren Aussagekraft beachtet worden sind. Der Sachverständige hat nach den Urteilsgründen zwar 13 Merkmalskomplexe und 23 Einzelmerkmale beschrieben, in denen er eine Überstimmung zwischen den Fotos der Überwachungskamera und dem Angeklagten erkannte. Jedoch kann den Urteilsgründen nicht entnommen werden, mit welcher Häufigkeit diese Merkmalskomplexe bzw. Einzelmerkmale in der Bevölkerung vorkommen. Nur dann kann überhaupt eine Aussage darüber gemacht werden, mit welchem Grad der Wahrscheinlichkeit ein Angeklagter aus der Gesamtbevölkerung als Täter herausgefiltert werden kann. Zur Beurteilung der diesbezüglichen Aussagekraft eines anthropologischen Vergleichsgutachtens sind im angefochtenen Urteil insbesondere die nachfolgenden Kriterien nicht hinreichend beachtet worden:
1.
Da die Körperoberfläche sich nicht aus naturgegeben abgegrenzten Merkmalen zusammensetzt, sondern ein morphologisches Kontinuum darstellt, aus dem willkürlich Teile als "Merkmale" zu abstrahieren sind, gibt es unendlich viele definierbare Merkmale. Da die Dokumentationslage bei Vergleichsuntersuchunge...