Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit der Auslieferung: Kein Bewilligungshindernis wegen derselben Tat, wenn die Einstellung des deutschen Ermittlungsverfahrens im Hinblick auf die Übernahme der Strafverfolgung durch den ersuchten Staat erfolgt
Leitsatz (amtlich)
Der Anwendungsbereich von § 83b Abs. 1 lit. b) IRG ist nicht eröffnet, wenn das deutsche Ermittlungsverfahren allein deshalb eingestellt wird, weil der ersuchende Staat die Strafverfolgung übernommen hat. Diese Art der Verfahrenserledigung berührt nicht das Verbot der Doppelbestrafung, weil der Einstellungsentscheidung keine Sachprüfung zugrunde liegt.
Normenkette
IRG §§ 29, 83b Abs. 1 Buchst. b)
Tenor
1. Die Auslieferung des Verfolgten zum Zweck der Strafvollstreckung wegen der im Europäischen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft beim Gericht P. vom 20. März 2015 (Az.: 60/2013 SIEP) genannten Straftaten wird für zulässig erklärt.
2. Die Auslieferungshaft dauert fort.
Gründe
I.
Gegen den Verfolgten liegt ein Europäischer Haftbefehl der Staatsanwaltschaft beim Gericht P. vom 20. März 2015 (Az.: 60/2013 SIEP) vor. Aus dem Haftbefehl geht hervor, dass gegen den Verfolgten ein rechtskräftiges und vollstreckbares Urteil des Gerichts von P. - Kollegialgericht - vom 19. Dezember 2008 (Az.: 405/2008) vorliegt, durch das der Verfolgte sowohl mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten, von der noch zwei Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe zu vollstrecken sind, als auch mit einer Geldstrafe in Höhe von 1.500,00 € belegt wurde.
Der Verfolgte ist durch das vorgenannte Urteil - bestätigt durch Urteil des Appellationsgerichts M. vom 15. Oktober 2012 (Nr. 791/12) - wegen schwerer Erpressung in zwei Fällen, fortgesetzter schwerer Erpressung in zwei Fällen und versuchter fortgesetzter schwerer Erpressung gemäß Art. 56, 81, 628 letzter Abs., 629 Abs. 1 und 2 des italienischen Strafgesetzbuchs schuldig gesprochen worden:
In der Zeit von Juni bis Juli 2000 (Tat A), Anfang Oktober 2001 (Tat B), am 30. November 2001 (Tat C), in der Zeit von November bis zum 4. Dezember 2001 (Tat D) und am 7. Dezember 2001 (Tat E) habe der Verfolgte durch mehrere Handlungen und wiederholte Drohungen - indem er auf mafiaartige Vereinigungen hingewiesen habe, um sich deren einschüchternder Macht zu bedienen - B. M. bzw. bei der Tat D dessen Neffen M. M. in W. genötigt, Geld abzugeben, wobei es bei der Tat E beim Versuch geblieben sei.
Der Verfolgte wurde am 3. Mai 2015 in W. vorläufig festgenommen und gemäß §§ 22, 28 IRG dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts W. vorgeführt. Im Rahmen seiner Anhörung am 4. Mai 2015 gab der Verfolgte zur Sache an, dass er schon längst verurteilt worden sei und deshalb nichts mehr sagen möchte. Zudem erklärte er, dass er einer Auslieferung zum Zwecke der Strafvollstreckung in Italien nicht zustimme und möchte, dass die Reststrafe in Deutschland vollstreckt werde.
Der Senat hat mit Beschluss vom 13. Mai 2015 angeordnet, den Verfolgten in Auslieferungshaft zu nehmen.
Mit Vorabentscheidung nach § 79 Abs. 2 IRG vom 21. Mai 2015 hat die Generalstaatsanwaltschaft bekannt gegeben, keine Bewilligungshindernisse gemäß § 83b IRG geltend zu machen.
Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig beantragt wie erkannt.
II.
1. Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft vom 16. Juni 2015, die Auslieferung für zulässig zu erklären (§ 29 IRG), ist begründet.
Der von den italienischen Behörden übermittelte und in die deutsche Sprache übersetzte Europäische Haftbefehl entspricht den Anforderungen des § 83a Abs. 1 IRG. Er enthält Angaben über die Identität und die Staatsangehörigkeit des Verfolgten, die Art und rechtliche Würdigung der Straftaten sowie die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftaten begangen wurden. Des Weiteren enthält er die verhängte Strafe, die Bezeichnung der ausstellenden Justizbehörde, deren Anschrift und die Angabe, dass ein vollstreckbares Urteil vorliegt.
Dass mit dem Ersuchen die einschlägigen Vorschriften des ersuchenden Staates - vorliegend Art. 56, 81, 628 letzter Abs., 629 Abs. 1 und 2 des italienischen Strafgesetzbuchs - nicht im Wortlaut übermittelt wurden (§ 83a Abs. 1 Nr 4 IRG), ist unschädlich. Das Oberlandesgericht kann selbst den Wortlaut der anwendbaren Bestimmungen ermitteln - sie sind im Internet unter www.altalex.com abrufbar - und auf dieser Grundlage die Zulässigkeit der Auslieferung prüfen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10. August 2006, Az.: 1 AK 30/06, OLG Stuttgart, Beschluss vom 26. Oktober 2006, Az.: 3 Ausl 52/06). Dies ist vorliegend geschehen, so dass auf diese Weise dem Gebot effektiven Rechtsschutzes Genüge getan wurde.
Die Voraussetzungen des § 81 Nr. 2 IRG i. V. m. § 3 Abs. 3 IRG sind erfüllt. Von der verhängten Freiheitsstrafe sind noch zwei Jahren und sechs Monate zu vollstrecken.
Beiderseitige Strafbarkeit ist gegeben (§ 3 Abs. 1 IRG). Die Taten wären nach deutschem Recht als räuberische Erpressung nach §§ 253, 255 StGB in fünf Fällen - davon in einem Fall als Versuch i. S. d. §§ 22, 23 Abs. 1 StGB - strafbar. ...