Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für Auslieferung zur Strafverfolgung nach Polen
Leitsatz (amtlich)
1. Bedenken eines Verfolgten im Hinblick auf die Unabhängigkeit des nach Übergabe zuständigen Gerichts der Republik Polen können trotz insoweit anzunehmender Mängel des polnischen Systems nur dann ein Übergabehindernis begründen, wenn sich aus dem Vorbringen des Verfolgten angesichts der besonderen Umständen des Falles konkrete Hinweise ergeben, dass ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe die Annahme rechtfertigen, er werde einer Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein.
2. Die Überprüfung der Haftbedingungen, die einen Verfolgten in der Republik Polen erwarten, ist wegen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht gestattet, weil derzeit keine Hinweise auf systemische oder allgemeine Mängel vorliegen.
Normenkette
GRCh Art. 47; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; EMRK Art. 3; IRG § 73 S. 2
Tenor
1. Die Auslieferung des Verfolgten aus Deutschland nach Polen zur Strafverfolgung wegen der im Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in Lodz vom 12. März 2019 (IV Kop 12/19) bezeichneten zwei Straftaten, die wiederum Gegenstand des Haftbefehls des Bezirksgerichts in Lodz vom 31. Oktober 2017 (IV Kp 459/17) sind, wird für zulässig erklärt.
2. Die Auslieferungshaft dauert fort.
Gründe
I.
Die polnischen Behörden haben durch eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) vom 30. April 2019 (Sirene Polen Nr. 155770) um Auslieferung des Verfolgten, eines polnischen Staatsangehörigen, zur Strafverfolgung ersucht. Der SIS-Ausschreibung liegt ein Europäischer Haftbefehl des Bezirksgerichts in Lodz vom 12. März 2019 (Az. IV KOP 12/19) zugrunde, der wiederum auf einem Haftbefehl des Bezirksgerichts in Lodz vom 31. Oktober 2017 (Az. IV KP 459/17) beruht.
Dem Verfolgten wird vorgeworfen, sich gemeinsam mit den gesondert verfolgten J, R und S zur Begehung eines Diebstahles von Bargeld (100.000 PLN) zum Nachteil des N verabredet zu haben, wobei der gesondert verfolgte S, dem der Verfolgte und der gesondert verfolgte R die Wohnung des Geschädigten zuvor gezeigt hätten, an einem nicht näher bekannten Tag im Oktober 2003 diesen Plan umgesetzt habe. Er sei in die Wohnung des Geschädigten (...) in Lodz eingebrochen und habe Schmuck der Ehefrau des Geschädigten an sich genommen, da er das Bargeld nicht habe auffinden können (Tat Nr. 1).
Dem Verfolgten wird weiter vorgeworfen, sich nach diesem Misserfolg erneut zur Begehung eines Überfalls mit weiteren gesondert verfolgten Mittätern (J, R, S, F) verabredet zu haben, um sich auf andere Weise in den Besitz der 100.000 PLN zu bringen. In Ausführung dieses Tatplanes hätten der Verfolgte und die Mittäter, die alle maskiert gewesen seien, den N an einem nicht näher bekannten Tag zwischen Mitte Oktober 2003 und Mitte November 2003 an einer unbefestigten Straße, die nach Teodorow führe, abgepasst, wobei einer der Täter eine Schusswaffe bei sich getragen habe. Der Verfolgte und die gesondert verfolgten Mittäter R, S sowie F hätten den Geschädigten aus dem Wagen gezerrt, geschlagen und getreten sowie ihm mit dem Einsatz der Schusswaffe bedroht, falls er ihnen das Geld nicht gebe. Daraufhin habe der Geschädigte ihnen zwei mitgeführte kleine Taschen ausgehändigt, aus denen der Verfolgte und die Mittäter die 100.000 PLN an sich genommen und mehrere Tage nach dem Überfall unter sich aufgeteilt hätten (Tat Nr. 2).
Der Verfolgte ist am 30. Januar 2022 vorläufig festgenommen worden. Er befindet sich, zunächst aufgrund der Festhalteanordnung des Amtsgerichts Göttingen vom 31. Januar 2022 und seit dem 4. Februar 2022 auf der Basis des Auslieferungshaftbefehls des Senats, in der Justizvollzugsanstalt A. Bei seiner Vernehmung durch den zuständigen Richter des Amtsgerichts Göttingen am 31. Januar 2022 hat er sich mit seiner vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden erklärt und auch auf die Beachtung des Spezialitätsgrundsatzes nicht verzichtet.
Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig hat mit Vorabentscheidung nach § 79 Abs. 2 IRG vom 10. Februar 2022 bekanntgegeben, keine Bewilligungshindernisse nach § 83b IRG geltend machen und die Auslieferung bewilligen zu wollen, sofern sie durch das Oberlandesgericht Braunschweig für zulässig erklärt werde (Bl. 96 - 98 d. A.). Mit Zuschrift vom 28. Februar 2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft sodann beantragt, die Auslieferung des Verfolgten für zulässig zu erklären und Haftfortdauer anzuordnen. Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die vorgenannte Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft (Bl. 147 - 151 d. A.) verwiesen.
Der Beistand des Verfolgten hat mit Schriftsatz vom 18. März 2022 Stellung genommen und zuvor bereits mit Schriftsatz vom 26. Februar 2022 beantragt, den Haftbefehl aufzuheben und festzustellen, dass die Auslieferung des Verfolgten unzulässig sei. Es liege ein Auslieferungshindernis gemäß § 73 IRG vor, weil die Situation im ...