Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschleunigungsgebot in Überhaftsachen
Leitsatz (amtlich)
1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen findet grundsätzlich auch dann Anwendung, wenn die Untersuchungshaft nicht vollzogen wird und lediglich Überhaft notiert ist. Allerdings erfährt das Beschleunigungsgebot in solchen Fällen wegen der geringeren Eingriffsintensität eine Abschwächung.
2. Der Grad dieser Abschwächung richtet sich stets nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles. Entscheidend ist insoweit, in welchem Maße der Gefangene in der Strafhaft Beschränkungen nach § 119 StPO unterliegt und ob die Überhaftnotierung der ansonsten denkbaren Unterbringung im offenen Vollzug und/oder der Gewährung von Lockerungen entgegensteht.
3. Der Verweis auf die angespannte Terminslage der Verteidiger eines Angeklagten in Untersuchungshaft kann allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Denn das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen, gilt nicht uneingeschränkt, sondern kann durch wichtige Gründe begrenzt sein. Ein solcher Grund kann in bestimmten Situationen auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sein.
4. Das Hinausschieben der Hauptverhandlung wegen Terminsschwierigkeiten der Verteidiger ist infolgedessen kein verfahrensimmanenter Umstand, der eine Verzögerung von mehreren Monaten rechtfertigen könnte. Vielmehr muss zwischen dem Recht eines Angeklagten, in der Hauptverhandlung von einem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, und seinem Recht, dass die Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sorgsam abgewogen werden. Dabei hat auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) das Recht des Angeklagten auf Aburteilung binnen angemessener Frist regelmäßig Vorrang.
5. Die Aussetzung der Hauptverhandlung in einer (Über-)Haftsache "zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus" ist jedenfalls dann nicht gerechtfertigt, wenn sie ohne jegliche Begründung ergeht und der erneute Verhandlungsbeginn ungewiss ist. Der Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten und Dritter kann gegenüber dem Recht des Angeklagten auf Aburteilung binnen angemessener Frist vielmehr nur dann überwiegen, wenn die Aussetzung der Hauptverhandlung tatsächlich erforderlich ist, weil ihre Fortführung auch unter Schutzvorkehrungen nicht verantwortbar wäre.
Normenkette
StPO §§ 119-120; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
LG Braunschweig (Entscheidung vom 19.12.2019; Aktenzeichen 8 KLs 60/19) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Angeklagten vom 11. Februar 2020 werden der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Braunschweig vom 19. Dezember 2019 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig vom 4. April 2019 aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.
Gründe
Das Rechtsmittel des Angeklagten hat Erfolg. Die Fortdauer der als Überhaft notierten Untersuchungshaft ist nicht mehr verhältnismäßig.
I.
Der Beschwerdeführer (nachfolgend auch: der Angeklagte) verbüßt derzeit aufgrund des Urteils des Landgerichts Braunschweig vom 27. Juni 2017 (Az.: 8 KLs 13/17) in der Justizvollzugsanstalt Celle eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten (Bl. 168 f. Bd. I d. SH "Haftbeschwerde ./. A", im Folgenden: d. SH).
Am 4. April 2019 hat das Amtsgericht Braunschweig (Az.: 7 Gs 768/19, Bl. 199-205 Bd. I d. SH) gegen den Angeklagten einen auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr sowie subsidiär auch den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehl erlassen, der ihm am 9. April 2019 verkündet wurde. Aufgrund dieses Haftbefehls ist für den Angeklagten Untersuchungshaft als Überhaft notiert.
Mit dem vorgenannten Haftbefehl werden dem Angeklagten 14 Fälle des bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, davon in einem Fall in Tateinheit mit Erpressung, sowie weitere 9 Fälle des gewerbsmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, begangen in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel zwischen dem 1. Juni 2018 und dem 18. März 2019,
zur Last gelegt. Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, er habe sich jedenfalls seit Juni 2018 mit den gesondert Verfolgten B, C und D zusammengeschlossen, um innerhalb der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, in welcher er sich zu dieser Zeit im Strafvollzug befand, Haschisch, Subutex und synthetische Cannabinoide an Mitinhaftierte zum gewinnbringenden Preis weiterzuverkaufen und sich so eine Einnahmequelle von einiger Dauer und Erheblichkeit zu verschaffen. Während der Beschwerdeführer das Verbringen der synthetischen Cannabinoide durch das Aufträufeln auf Haftpostbriefe und der weiteren Betäubungsmittel durch gezielte Mauerüberwürfe oder durch das Einschmuggeln durch Freigänger aus Haus III der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel veranlasst sowie die Betäubungsmittel selbst an Mitinhaftierte verkauft habe, sei C oftmals der Adressat der Postlie...