Entscheidungsstichwort (Thema)
Notwendige Verteidigung bei stotterndem Beschuldigten
Leitsatz (amtlich)
1. § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO ist im Hinblick auf hör- und sprachbehinderte Beschuldigte wie § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. auszulegen.
2. Das Stottern eines Beschuldigten begründet den Fall einer notwenigen Verteidigung lediglich dann, wenn die Behinderung einen solchen Grad annimmt, dass die Befürchtung besteht, der Beschuldigte werde wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen.
Normenkette
StPO § 140 Abs. 1 Nr. 11; StPO a.F. § 140 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
LG Braunschweig (Entscheidung vom 19.05.2021; Aktenzeichen 7 Ns 908 Js 36688/20 (109/21) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen die Entscheidung der Vorsitzenden der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Braunschweig vom 19. Mai 2021 wird auf seine Kosten verworfen.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer (im Folgenden: der Angeklagte) wurde durch Urteil des Amtsgerichts Wolfsburg vom 16. März 2021, gegen das er form- und fristgerecht Berufung einlegte, wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Im Berufungsverfahren meldete sich Rechtsanwalt T für den Angeklagten und beantragte seine Beiordnung als Pflichtverteidiger, weil der Angeklagte unter einer erheblichen Sprachbehinderung (Stottern) leide. Mit der angefochtenen (...) Entscheidung lehnte die Vorsitzende der 7. kleinen Strafkammer, bei der das Berufungsverfahren anhängig ist, die Beiordnung ab, da der Beiordnungsantrag im Namen des Verteidigers gestellt sei und ferner auch die Voraussetzungen für eine Beiordnung nicht vorlägen.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Angeklagte mit der mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 20. Mai 2021 eingelegten sofortigen Beschwerde. Er führt aus, dass er - der Angeklagte - für sich selbst einen Pflichtverteidiger beanspruche und der Antrag nicht von seinem Verteidiger in dessen Namen gestellt werde. Eine Beiordnung sei bereits nach § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO geboten.
Die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig beantragt mit Zuschrift vom 21. Mai 2021 wie erkannt. Der Angeklagte hat Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme gehabt.
II.
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 20. Mai 2021 ist statthaft (§ 142 Abs. 7 StPO), frist- (§ 311 Abs. 2 StPO) und formgerecht angebracht (§ 306 Abs. 1 StPO) sowie auch ansonsten zulässig.
Das Rechtsmittel hat in der Sache indes keinen Erfolg, weil kein Fall einer notwendigen Verteidigung vorliegt.
1.
Eine Beiordnung ist zunächst nicht nach § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO geboten. Bei dem Angeklagten handelt es sich nicht um einen sprachbehinderten Beschuldigten im Sinne der Vorschrift.
a)
Nach im Ergebnis einhelliger, hinsichtlich des genauen Maßstabs aber differenzierender Auffassung begründet nicht jeder von der Norm abweichende körperliche Zustand eines Beschuldigten eine Seh-, Hör- beziehungsweise Sprachbehinderung im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO. Anderenfalls würde auch ein leicht fehlsichtiger Beschuldigter, der auf eine Brille angewiesen ist, unter den Anwendungsbereich der Vorschrift fallen, was ersichtlich weder vom Gesetzgeber gewollt noch vom Sinn und Zweck der notwendigen Verteidigung ausgehend geboten ist.
Geringfügige Sprechbehinderungen fallen damit nicht in den Anwendungsbereich des § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO. Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht stellt auch ein Stottern eine derart leichte Sprechbehinderung dar (Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 64. Aufl. 2021, § 140 StPO Rn. 20e).
Der Regelung der Beiordnungsvoraussetzungen in § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO ging - in Bezug auf hör- und sprechbehinderte Beschuldigte - eine entsprechende Regelung in § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO a. F. voraus. Mit der Änderung, durch die Art. 9 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls umgesetzt wurde, war lediglich in Bezug auf sehbehinderte Beschuldigte eine inhaltliche Ausweitung der Beiordnungsvoraussetzungen beabsichtigt; in Bezug auf hör- und sprechbehinderte Beschuldigte wurde hingegen das vorherige Recht als ausreichend angesehen (BT-Drs. 19/13829, S. 27). Bei der Auslegung der Vorschrift des § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO wurde ein Stottern lediglich dann als ausreichend für das Vorliegen eines Bestellungsgrundes angenommen, wenn die Behinderung einen solchen Grad annimmt, dass die Befürchtung besteht, der Beschuldigte werde wegen seines Gebrechens nicht alles Notwendige sagen (Lüderssen, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozessordnung, 26. Aufl. 2007, § 140 StPO Rn. 96). Für eine solche Auslegung sprach auch die systematische Stellung des § 140 Abs. 2 Satz 2 StPO in § 140 Abs. 2 StPO, der in seinem Satz 1 unter anderem den Fall der Unfähigkeit zur Selbstverteidigung beinhaltete. Die gesonderte Regelung ha...