Entscheidungsstichwort (Thema)
Spezialitätsgrundsatz bei unfreiwilliger Rückkehr eines in die Bundesrepublik ausgelieferten Verfolgten, der das Bundesgebiet zuvor verlassen hat
Leitsatz (amtlich)
1. Der Regelungsbereich des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG endet mit der Ausreise des Ausgelieferten aus dem ersuchenden Staat und steht seiner Festnahme auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Ausland nicht entgegen.
2. Die Vorschrift des § 83h Abs. 2 Nr. 1 IRG entspricht derjenigen des Art. 14 Abs. 1 lit b) EUAlÜbk, so dass beide Vorschriften gleich auszulegen sind.
3. Der Erlass eines Haftbefehls vor Zustimmung des ersuchten Staates verstößt nicht gegen den Spezialitätsgrundsatz. Die Zustimmung muss erst dann vorliegen, wenn die Freiheit des Verfolgten durch den Haftbefehls beschränkt wird.
Normenkette
IRG § 83h Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nrn. 1, 3, 5; EUAuslÜbk Art. 14 Abs. 1 Buchst. b)
Verfahrensgang
LG Braunschweig (Entscheidung vom 11.06.2019) |
Tenor
Die weitere Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 11. Juni 2019 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Braunschweig erließ gegen den Beschwerdeführer (nachfolgend auch: Beschuldigten) am 05. Dezember 2018 einen Haftbefehl wegen des dringenden Verdachtes der schweren Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung sowie der räuberischen Erpressung, gestützt auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (...).
[...]
Das Amtsgericht begründete das Vorliegen der Fluchtgefahr damit, dass der Beschuldigte - auch vor dem Hintergrund zahlreicher Vorstrafen (der Bundeszentralregisterauszug enthalte 16 Eintragungen) - eine hohe Strafe zu erwarten habe und weder über einen festen Wohnsitz noch eine Arbeitsstelle oder familiäre Bindungen verfüge. Er habe sich jahrelang im Ausland aufgehalten und habe sich bereits nach einer Haftentlassung aus der Justizvollzugsanstalt W. im August 2018 wieder über die Niederlande nach Italien abgesetzt, wo er für das Verfahren der Staatsanwaltschaft Flensburg mit dem Aktenzeichen 108 Js 6272/10 festgenommen worden sei.
In der Vergangenheit ist der Beschuldigte strafrechtlich bereits erheblich in Erscheinung getreten. U.a. wurde er mit Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 06. Oktober 2011 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 10 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt wurde. Am 22. Juni 2017 wurde der Beschuldigte aufgrund eines Europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Hannover vom 23. August 2016 (...) zum Zwecke der Strafverfolgung in einem Verfahren der Staatsanwaltschaft Hannover wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften aus Portugal nach Deutschland ausgeliefert. Mit Entscheidung vom 12. Juni 2017 hatte das Tribunal de Relacao de Evora in Portugal die Übergabe des Beschuldigten an die deutschen Justizbehörden bewilligt, wobei der Beschuldigte nicht auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hatte. Der Beschuldigte wurde in jenem Verfahren mit Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 27. September 2017 wegen Besitzes kinderpornografischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt, die er bis zum 31. August 2018 vollständig verbüßte. Im Anschluss daran trat Führungsaufsicht ein.
Während seiner Inhaftierung widerrief das Landgericht Braunschweig mit Beschluss vom 15. März 2018, rechtskräftig seit dem 21. Juni 2018, die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 06. Oktober 2011. Dem Beschuldigten wurde mit Schreiben des Landgerichts Braunschweig vom 02. Juli 2018 unter Hinweis auf § 11 IRG mitgeteilt, dass eine unmittelbare Anschlussvollstreckung wegen des Spezialitätsgrundsatzes nur aufgrund eines Nachtragsersuchens oder des Verzichts des Beschuldigten auf die Spezialität möglich sei. Da der Beschuldigte einer Anschlussvollstreckung widersprach und die portugiesischen Behörden trotz eines entsprechenden Antrages der Staatsanwaltschaft Flensburg bisher nicht auf die Anwendung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet und der Strafvollstreckung nicht zugestimmt hatten, wurde der Beschuldigte am 31. August 2018 aus der Haft entlassen. Spätestens 19 Tage nach seiner Haftentlassung, mithin am 18. oder 19. September 2018, reiste der Beschuldigte in die Niederlande und in der Folgezeit nach Italien. Am 19. September 2018 erließ die Staatsanwaltschaft Flensburg im Verfahren 108 VRs 6272/10 einen Vollstreckungshaftbefehl, auf dessen Grundlage sie am 26. September 2018 einen Europäischen Haftbefehl erließ. Aufgrund dessen wurde der Beschuldigte am 27. September 2018 in Mailand festgenommen. Bei Eröffnung des Haftbefehls durch die italienischen Behörden stimmte der Beschuldigte seiner Übergabe zu, ohne auf den Spezialitätsgrundsatz zu verzichten.
Seit dem 18. Oktober 2018 verbüßte er die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Niebüll vom 06. Oktober 201...