Entscheidungsstichwort (Thema)
Fortdauer der Untersuchungshaft zwischen tatrichterlicher Verurteilung und Revisionsentscheidung bei verzögerter Urteilszustellung wegen fehlender Protokollfertigstellung. Strafprozessrecht, Untersuchungshaft, Hauptverhandlungsprotokoll, unwirksame Urteilszustellung, Verfahrensverzögerung, Revisionsgegenerklärung, Kompensation
Leitsatz (amtlich)
1. Das Ergehen auch einer noch nicht rechtskräftigen tatrichterlichen Verurteilung begründet ein Indiz für das Bestehen eines dringenden Tatverdachts auch für das Beschwerdegericht im Haftbeschwerdeverfahren.
2. Das Beschleunigungsverbot verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils, es vergrößert sich aber mit dieser Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist.
3. Eine von der Justiz zu vertretende Verzögerung des Verfahrens kann dadurch kompensiert werden, dass derselbe Umstand zugleich dafür ursächlich geworden ist, dass weitere Verfahrensschritte früher abgeschlossen werden konnten, als dies im Übrigen der Fall gewesen wäre. So kann, wenn wegen zunächst fehlender Protokollfertigstellung die Übersendung eines schriftlichen Urteils zu wiederholen ist und dadurch der Lauf der Revisionsbegründungsfrist erst verzögert in Gang gesetzt wurde, die Verzögerung dadurch teilweise kompensiert werden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Revisionsgegenerklärung bereits auf die nach der ersten, letztlich nicht wirksam erfolgten Urteilszustellung erstellte Revisionsbegründungsschrift hin erstellt.
4. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse ist auch zu würdigen, ob eine Verfahrensverzögerung auf ein allgemeines Organisationsdefizit der Justiz bzw. auf eine entsprechende Absicht zurückzuführen ist, oder ob sich um ein bloßes Versehen im Einzelfall gehandelt hat. Ungeachtet der hohen Sorgfaltsanforderungen an die Strafjustiz, die in besonderer Weise bei der Bearbeitung von Haftsachen gelten, ist eine Fehlerfreiheit nicht erreichbar.
Normenkette
StPO §§ 112, 120 Abs. 1, § 273 Abs. 4, § 345 Abs. 1, § 347
Verfahrensgang
LG Bremen (Entscheidung vom 24.08.2022; Aktenzeichen 5 KLs 331 Js 39193/20) |
Tenor
Die Beschwerde des Angeklagten A. vom 30.08.2022 gegen den Haftfortdauerbeschluss der Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen vom 24.08.2022 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Bremen hat am 08.12.2020 zum Aktenzeichen 91b Gs 1240/20 (331 Js 39193/20) Haftbefehl gegen den Angeklagten wegen des dringenden Tatverdachts der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG erlassen. Der Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt. Der Angeklagte wurde am 10.12.2020 aufgrund dieses Haftbefehls des Amtsgericht Bremen vorläufig festgenommen und befindet sich seit diesem Tag durchgehend im Vollzug der Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Bremen.
Am 03.03.2021 erhob die Staatsanwaltschaft Bremen vor der Großen Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen Anklage gegen den Angeklagten A. und gegen seinen Bruder, den Mitangeklagten B. Die Staatsanwaltschaft legte dem Angeklagten A. insgesamt 22 Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz, dem Waffengesetz und dem Kriegswaffenkontrollgesetz im Zeitraum zwischen dem 28.03.2020 und dem 30.05.2020 zur Last. Auf die Verfügung der Vorsitzenden vom 05.03.2021 wurde die Anklageschrift dem Verteidiger C... am 15.03.2021 und dem Verteidiger D... am 10.03.2021 zugestellt.
Mit Beschluss vom 10.05.2021 ließ die Strafkammer die angeklagten Taten zur Hauptverhandlung zu, eröffnete das Hauptverfahren und ordnete gegen beide Angeklagte die Fortdauer der Untersuchungshaft an.
Nach Beginn der Hauptverhandlung am 28.05.2021 hat die Große Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen den Angeklagten A. nach 33 Hauptverhandlungstagen am 11.02.2022 unter Teilfreispruch im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 7 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Maschinenpistole) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten verurteilt und die Einziehung eines Betrages in Höhe von 949.476,- € angeordnet sowie beschlossen und verkündet, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts Bremen vom 08.12.2020 gegen den Angeklagten nach Maßgabe des am 11.02.2022 verkündeten Urteils aufrechterhalten und in Vollzug bleibt.
Gegen den Mitangeklagten B., den Bruder des Angeklagten A., verhängte das Landgericht Bremen unter Teilfreispruch im Übrigen eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jah...