Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO. Strafprozessrecht, Untersuchungshaft, Haftgrund der Wiederholungsgefahr
Leitsatz (amtlich)
1. Die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr ist kein Mittel der Verfahrenssicherung, sondern eine vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Rechtsgemeinschaft vor weiteren erheblichen Straftaten. Es sind daher aus verfassungsrechtlichen Gründen strenge Anforderungen an den Haftgrund und die Qualität des Anlassdeliktes zu stellen.
2. Als die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Taten nach § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO kommen nur Taten überdurchschnittlichen Schweregrades und Unrechtsgehaltes in Betracht bzw. solche, die mindestens in der oberen Hälfte der mittelschweren Straftaten liegen, wobei jede einzelne Tat ihrem konkreten Erscheinungsbild nach den erforderlichen Schweregrad aufweisen muss.
3. Die Wiederholungsgefahr muss durch bestimmte Tatsachen begründet sein, die eine so starke Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Straftaten erkennen lassen, dass die naheliegende Gefahr besteht, er werde noch vor rechtskräftiger Verurteilung in der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildenden Sache weitere gleichartige Taten begehen. Diese Gefahrenprognose erfordert eine hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens, wobei auch Indiztatsachen zu berücksichtigen sind.
4. Betrugstaten nach § 263 StGB können auch dann taugliche Anlasstaten nach § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO darstellen, wenn lediglich aufgrund der in der Baubranche geltenden Beitragspflicht zur Sozialkasse Bau der § 263 StGB hier nicht von dem nicht im Katalog der Anlasstaten genannten spezielleren § 266a StGB verdrängt wird.
5. Die Ruhensvorschrift des § 121 Abs. 3 StPO findet Anwendung auch auf die Frist nach § 122a StPO für den Vollzug einer auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützten Untersuchungshaft.
Normenkette
StPO § 112 Abs. 1 S. 1, § 112a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, §§ 116, 120 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 3, § 122a; StGB §§ 263, 266a
Verfahrensgang
LG Bremen (Entscheidung vom 17.04.2023; Aktenzeichen 32 KLs 720 Js 33820/20 (7/22) |
Tenor
Die Beschwerde des Angeklagten ... vom 20.04.2023 gegen den Haftfortdauerbeschluss der Strafkammer 32 des Landgerichts Bremen vom 17.04.2023 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Gründe
I.
1. Das Amtsgericht Bremen erließ unter dem Aktenzeichen ... am 09.05.2022 einen Haftbefehl gegen den Angeklagten ... wegen des Tatvorwurfes der bandenmäßigen Beitragsvorenthaltung, des gewerbs- und bandenmäßigen Betruges sowie der Steuerhinterziehung jeweils in einer Vielzahl von Fällen, gestützt auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr. Der Angeklagten wurde am 19.05.2022 vorläufig festgenommen und befindet sich seit diesem Tag in Untersuchungshaft aufgrund des vorstehend genannten Haftbefehls.
Im Einzelnen hat das Amtsgericht dem Haftbefehl vom 09.05.2022 einen dringenden Tatverdacht bezüglich der folgenden Vorwürfe zugrunde gelegt: Der Angeklagte ... ist verdächtig, seit Januar 2019 gemeinschaftlich handelnd mit weiteren Beschuldigten als ... Arbeitnehmer beschäftigt zu haben, welche nicht oder nur in geringerem Umfang zur Sozialversicherung gegenüber der SOKA-BAU und dem Finanzamt angemeldet worden sind, wodurch Gesamtsozialversicherungs- und Sozialkassenbeiträge sowie Lohnsteuern zum jeweiligen Fälligkeitstag nicht in der richtigen Höhe abgeführt bzw. Urlaubskassenbeiträge seitens der zuständigen Stelle täuschungsbedingt zu niedrig festgesetzt worden sind. Um die tatsächliche Arbeitgebereigenschaft der entsprechenden Firmen sowie die Bezahlung der Arbeitnehmer für die über ihre Anmeldung hinaus geleistete Arbeit zu verschleiern, soll der Angeklagte Rechnungen von vermeintlichen Subunternehmern, welche als Scheinfirmen fungiert haben sollen, eingebucht haben, denen tatsächlich keine Leistungen zugrunde lagen. Durch die Begleichung dieser Rechnungen sollen die überwiesenen Geldbeträge in Höhe von mehreren Millionen Euro dem offiziellen Wirtschaftskreislauf dergestalt entzogen worden sein, dass diese nach Abhebung durch weitere Beschuldigte in bar - nach Abzug einer Provision - an den Angeklagten zurückgeflossen sein sollen, so dass diesem hierdurch die Bezahlung der nicht oder nicht in vollem Umfang angemeldeten Arbeitnehmer möglich war.
In rechtlicher Hinsicht begründete dies nach dem Haftbefehl des Amtsgerichts Bremen vom 09.05.2022 einen dringenden Tatverdacht gegen den Angeklagten wie folgt: ...
2. Am 25.05.2022 beantragte der Verteidiger des Angeklagten ..., Termin zur mündlichen Haftprüfung anzuberaumen, wobei er darlegte, der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr sei nicht gegeben. Nach Durchführung des Haftprüfungstermins am 08.06.2022 wurde der Antrag auf Haftprüfung am 09.06.2022 zurückgenommen. Ein in Unkenntnis der Antragsrücknahme ergangener Beschluss das Amtsgericht Bremen vom 13.06.2022, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts Bremen vom 09.05.2022 nach erfolgter Haftprüfung aufrechterhalten und i...