Leitsatz (amtlich)
1. Auch grobe Organisationsmängel können einen groben Behandlungsfehler darstellen.
2. Ein grober Organisationsmangel ist gegeben, wenn in der Ambulanz/Aufnahme einer Kinderklinik der Maximalversorgung nicht sichergestellt ist, dass die Beurteilung des Zustandes eines neugeborenen Kindes, das ohne Einlieferungsschein in die Klinik gebracht wird, im angemessenen zeitlichen Rahmen durch einen erfahrenen Arzt vorgenommen wird.
Normenkette
BGB §§ 823, § 249 ff.
Verfahrensgang
LG Bremen (Urteil vom 27.04.2005; Aktenzeichen 1 O 88/01a) |
Tenor
Die Berufungen der Beklagten gegen das Urteil des LG Bremen - 1. ZK. - vom 27.4.2005 werden zurückgewiesen.
Die Beklagten tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des erstinstanzlichen Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
A. Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schmerzensgeld und Schadensersatz aus behauptetem Fehlverhalten bei der Nachsorge nach seiner Geburt in Anspruch. Der Kläger wurde am 26.8.1997 um 3.33 Uhr im Krankenhaus der Beklagten zu 2) geboren. Etwa zwei bis drei Stunden nach seiner Geburt wurde eine Blutzuckeruntersuchung durchgeführt, deren Wert unter der Normgrenze lag. Nach oraler Zuckerzufuhr und Erhebung zweier Kontrollbefunde wurde der Kläger nach etwa 8 Stunden ohne weitere Hinweise auf die Blutzuckerproblematik entlassen. Die Beklagte zu 3) als Hebamme übernahm seine Betreuung im mütterlichen Haushalt. Sie suchte den Kläger noch am 26.8.1997 auf, empfahl, nachdem ihr die Mutter des Klägers über die nach der Geburt vorhandene Unterzuckerung berichtet hatte, Tee mit Traubenzucker zu geben und gab dem Kläger am nächsten Tage, als sie gegen 15 Uhr wiederkam, zur Beruhigung ein homöopathisches Mittel. Am Morgen des 28.8. begaben sich die Eltern, nachdem der Kläger wie tot aussah, mit dem Kind in die Klinik der Beklagten zu 1), wo sie um 8.30 Uhr eintrafen. Dort kam es gegen 11 Uhr beim Anlegen eines Tropfes zum Herz-Atemstillstand mit anschließenden Krampfanfällen. Der Kläger ist seither schwer behindert, er ist nahezu blind. Zu den weiteren Einzelheiten der Ereignisse in der Zeit nach der Geburt des Klägers wird auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils (S. 3 und 4, Bl. 545, 546 d. Akte) Bezug genommen.
Nach Einholung schriftlicher Sachverständigengutachten von Prof. K. vom 15.8.2003 (Bl. 213-218 d.A.), von Prof. Sch. vom 31.3.2004 (Bl. 310-365 d.A.) mit Gutachten Prof. Z. vom 16.3.2004 (Bl. 303-308 d.A.) und Ergänzungsgutachten vom 31.8.2004 (Bl. 397-406 d.A.) mit Gutachten Prof. H. von August 2004 (Bl. 407-408 d.A.) und nach mündlicher Anhörung der Sachverständigen Prof. von St., Prof. Dr. Sch., Prof. Dr. H. sowie des Oberarztes Dr. Sch. und den Eltern des Klägers im Termin vom 2.3.2005 und unter Verwertung des schriftlichen Gutachtens Dr. von St. vom 17.8.1999 (Bl. 26-45 d.A.), das für die Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammer in Hannover erstattet worden war, hat das LG die Beklagten mit Urteil vom 27.4.2005 zu Schmerzensgeldzahlungen von insgesamt EUR 100.000 verurteilt, und zwar die Beklagte zu 1) zu EUR 30.000, die Beklagte zu 2) zu EUR 45.000 und die Beklagte zu 3) zu EUR 25.000. Darüber hinaus hat es die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, dem Kläger allen vergangenen und zukünftig entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen, der auf die Nachsorge nach seiner Geburt am 26.8.1997 bis zum 28.8.1997 durch die Beklagten zurückzuführen ist, soweit nicht Ansprüche auf öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.
Das LG hat zur Begründung ausgeführt, allen drei Beklagten falle bei der Nachsorge nach der Geburt des Klägers ein Behandlungsfehler zur Last, wobei die Behandlungsfehler der Beklagten zu 1) und 2) "grob" seien. Der grobe Behandlungsfehler der Beklagten zu 1) sei darin zu sehen, dass der Kläger dort nicht unmittelbar nach seinem Eintreffen ärztlich untersucht und behandelt worden sei. Die fehlende Sicherstellung der schnellen Erkennung risikobelasteter und/oder bereits bedrohlicher Krankheitssituationen von Kindern, die ohne ärztliche Einweisung in der Aufnahme und/oder Ambulanz eines Krankenhauses der Maximalversorgung, wie es die Beklagte zu 1) sei, gebracht werden, stelle einen schweren organisatorischen Mangel dar. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei auch nicht auszuschließen, dass dieser Mangel den beim Kläger eingetretenen schweren Hirnschaden zumindest mitverursacht habe. Die Haftung der Beklagten zu 2) beruhe darauf, dass der Kläger schon von seinem äußeren Erscheinungsbild her als Risikoneugeborenes hätte eingestuft werden müssen. Jedenfalls auf Grund des 2-3 Stunden nach der Geburt erhobenen Befundes habe die Beklagte zu 2) den Blutzuckerspiegel mindestens 24 S...