Entscheidungsstichwort (Thema)
Internationale Rechtshilfe in Strafsachen: Auslieferungshaft zum Zwecke der Strafverfolgung und Strafvollstreckung in der Türkei bei zu erwartendem Auslieferungshindernis
Leitsatz (amtlich)
1. Die Auslieferung eines Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung oder Strafvollstreckung in die Türkei ist trotz der dortigen aktuellen politischen Lage nicht grundsätzlich unzulässig.
2. Angesichts der aktuellen politischen Lage in der Türkei nach dem Putschversuch im Juli 2016 kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass die dortigen Haftbedingungen den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen widersprechen.
3. Solange im Einzelfall keine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung vorliegt, dass die den Verfolgten konkret erwartenden Haftbedingungen den europäischen Mindestanforderungen entsprechen, steht der Auslieferung ein Hindernis nach § 73 S. 1 IRG entgegen (Anschluss an KG Berlin, Beschluss vom 17. Januar 2017, - (4) 151 AuslA 11/16 (10/17)-).
4. Es ist angesichts der Erfahrungen anderer Gerichte im Auslieferungsverkehr mit der Türkei derzeit nicht zu erwarten, dass dieses Auslieferungshindernis zeitnah ausgeräumt werden kann, weshalb bereits die Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft nicht in Betracht kommt, solange eine entsprechende völkerrechtlich verbindliche Zusicherung fehlt (Anschluss an KG Berlin, Beschluss vom 17. Januar 2017, - (4) 151 AuslA 11/16 (10/17)-).
Normenkette
IRG §§ 15, 73 S. 1; EMRK Art. 3
Tenor
Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Celle auf Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft wird derzeit abgelehnt.
Gründe
I.
Die Republik Türkei betreibt die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung. Hierzu liegt eine Verbalnote der türkischen Republik vom 05. Mai 2017 vor. In dem Ersuchen wird die dem Verfolgten vorgeworfene Tat, wegen derer er vor dem 1. Schwurgericht zu B. angeklagt ist, zusammenfassend wie folgt beschrieben:
Am 27. April 2011 kam es zunächst zu einem verbalen Streit über die Befüllung einer Baugrube zwischen drei Mitgliedern der Familie O. einerseits und dem Verfolgten und vier seiner Familienangehörigen andererseits. Dieser Streit mündete in eine Schlägerei, im Rahmen derer sich der Verfolgte und seine Familienmitglieder jeweils mit einem Jagdgewehr bewaffneten, während zwei Angehörige der Familie O. jeweils ein Jagdgewehr bzw. eine Pistole in den Händen hielten. Bei dem folgenden, gegenseitigen Schusswechsel feuerte T. O. seine Familienmitglieder mit den Worten "schießt, lasst niemanden am Leben" an, während der Verfolgte gemeinsam mit seinen Begleitern in Tötungsabsicht mit Schrotkörnern auf alle drei Mitglieder der Familie O. schoss, so dass der Geschädigte S. O. von insgesamt 22 Schrotkörnern getroffen wurde.
Aufgrund seiner Abwesenheit wurde gegen den Verfolgten am 14. Februar 2017 Haftbefehl durch das 1. Schwurgericht zu B. erlassen.
Der Verfolgte befindet sich auf freiem Fuß und hat von dem Auslieferungsersuchen bisher keine Kenntnis.
Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat beantragt, die förmliche Auslieferungshaft anzuordnen.
II.
Der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft auf Anordnung der förmlichen Auslieferungshaft ist derzeit abzulehnen.
Zwar erfüllt das mit Verbalnote vom 05. Mai 2017 (2017/.../...) übermittelte Auslieferungsersuchen die Anforderungen des Art. 12 EuAlÜbk. So liegt das Ersuchen in beglaubigter Ablichtung sowie in beglaubigter Übersetzung aus der türkischen Sprache vor und beinhaltet den Haftbefehl des 1. Schwurgerichts zu B. vom 14. Februar 2017, die Anklage der Staatsanwaltschaft zu B. vom 24. April 2015 sowie - unter Benennung der Tatzeit und des Tatortes - eine Darstellung der dem Verfolgten zur Last gelegten Tat und die Wiedergabe der anwendbaren Bestimmungen des türkischen Strafgesetzbuches.
Die Auslieferungsfähigkeit der verfolgten Straftat ist gegeben. Das dem Verfolgten vorgeworfene Verhalten ist sowohl nach türkischem Recht (Artikel 81 Abs.1, Artikel 35, Artikel 29 Abs. 1 des türkischen Strafgesetzbuches) als auch nach deutschem Recht als versuchter Totschlag (§§ 212, 22, 23 StGB) strafbar und ist nach dem Recht beider Staaten im Höchstmaß mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EuAlÜbk). Die Frage des möglichen Vorliegens einer Notwehrlage wäre im türkischen Strafverfahren im Rahmen der dortigen Hauptverhandlung zu klären.
Es besteht kein Anlass zur Annahme, dass nach dem Recht der Türkei oder nach deutschem Recht Vollstreckungsverjährung eingetreten ist (Art. 10 EuAlÜbk). Nach Mitteilung der türkischen Behörden tritt die Verfolgungsverjährung am 27. Oktober 2033 ein. Der Verfolgte besitzt nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Die dem Verfolgten vorgeworfene Tat weist aufgrund der Tatörtlichkeit zudem allein Bezüge zum Recht des ersuchenden Staates auf und es handelt sich weder um eine politische, militärische noch um eine fiskalische Straftat.
Der Senat vermag die Voraussetzungen für die Anordnung der Auslieferungshaft derzeit a...