Entscheidungsstichwort (Thema)
Sitzungspolizeiliche Verfügung zum Nachweis eines Corona-Schnelltests vor Zutritt zum Sitzungssaal
Leitsatz (amtlich)
Die sitzungspolizeiliche Generalklausel des § 176 GVG ermächtigt den Vorsitzenden, den Zutritt zum Sitzungssaal vom Nachweis einer negativen Testung auf das Coronavirus SARS-CoV-2 abhängig zu machen. Eine entsprechende Anordnung kann auch gegenüber geimpften Personen verhältnismäßig sein.
Normenkette
GVG § 176 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Hannover (Aktenzeichen 34 KLs 8/21) |
Tenor
Die Beschwerden werden auf Kosten der Beschwerdeführer verworfen.
Gründe
I.
Die Vorsitzende der Jugendkammer 2 des Landgerichts Hannover hat am 9. Juli 2021 für die am 12. August 2021 beginnende Hauptverhandlung eine Sicherheitsverfügung erlassen, wonach Verfahrensbeteiligte, Zeugen und Zuschauer nur mit negativem Coronatest in den Saal einzulassen sind und für den Nachweis ein tagesaktueller Schnelltest in einem Testzentrum oder der Teststation des Landgerichts erforderlich ist.
Gegen diese Verfügung wenden sich die Verteidiger mit ihren im eigenen Namen erhobenen Beschwerden. Sie machen insbesondere geltend, dass sie vollständig geimpft und die geforderten Schnelltests bereits deshalb nicht aussagekräftig seien, außerdem fehle es an einer gesetzlichen Grundlage für die Sicherungsverfügung, zumal diese abweichend von bundes- und landesrechtlichen Regelungen nicht zwischen geimpften und ungeimpften Personen differenziere.
Die Staatsanwaltschaft Hannover hat gegenüber dem Landgericht beantragt, der Beschwerde abzuhelfen, da die Anordnung der gesetzlich vorgesehenen Gleichstellung von geimpften und getesteten Personen widerspreche.
Die Kammer hat daraufhin mit Beschluss vom 22. Juli 2021 eine Nichtabhilfeentscheidung getroffen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerden als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die Beschwerden haben keinen Erfolg.
1.
Die Beschwerden sind zulässig. Nach der Rechtsprechung des Senats ist eine Beschwerde gegen eine sitzungspolizeiliche Maßnahme grundsätzlich statthaft, wenn ihr eine über die Dauer der Hauptverhandlung oder sogar über die Rechtskraft des Urteils hinausgehende Wirkung zukommt und insbesondere Grundrechte oder andere Rechtspositionen des von einer sitzungspolizeilichen Maßnahme Betroffenen dauerhaft tangiert und beeinträchtigt werden (Senat, Beschluss vom 8. Juni 2015, NdsRpfl 2015, 378).
Eine derartige Beeinträchtigung ist im vorliegenden Fall zu besorgen. Denn würde den Beschwerdeführern gemäß der angefochtenen Sicherungsverfügung der Zutritt zum Sitzungssaal verwehrt werden, müssten sie damit rechnen, dass infolge ihres Ausbleibens gemäß § 145 StPO die Hauptverhandlung ausgesetzt und ihnen die dadurch verursachten Kosten auferlegt würden (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 15. April 2021, NdsRpfl 2021, 251).
2.
In der Sache sind die Beschwerden unbegründet. Die Verweigerung des Zutritts zum Sitzungssaal für nicht oder negativ getestete Personen ist von der Ermächtigung des Vorsitzenden zur Ausübung der Sitzungspolizei gemäß § 176 Abs. 1 GVG gedeckt und beruht auf einer fehlerfreien Ausübung des - weitreichenden - Ermessens der Vorsitzenden.
a)
Die Regelung des § 176 Abs. 1 GVG ermächtigt - als "sitzungspolizeiliche Generalklausel" (BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2006, 2 BVR 677/05, juris) - zu allen Maßnahmen, die erforderlich sind, um den ungestörten und gesetzesmäßigen Ablauf der Sitzung zu gewährleisten (Kissel/Mayer, GVG § 176 Rn. 13; KK-StPO/Diemer, GVG § 176 Rn. 1; Löwe-Rosenberg/Wickern, GVG § 176 Rn. 1). Dazu gehören auch Maßnahmen zum Schutz der Verfahrensbeteiligten (Kissel/Mayer, GVG § 176 Rn. 13; KK-StPO/Diemer, GVG § 176 Rn. 1.;MüKoStPO/Kulhanek, GVG § 176 Rn. 1). Die Ermächtigung erstreckt sich deshalb auch auf Maßnahmen zur Verhinderung einer Ansteckung mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (OLG Celle, Beschluss vom 15. April 2021, NdsRpfl 2021, 251; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 28. September 2020, 1 BvR 1948/20, juris).
Als förmliches Gesetz ermächtigt § 176 Abs. 1 GVG auch zu Eingriffen in die Berufsausübungsfreiheit der Beschwerdeführer (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG). Dasselbe gilt - vorbehaltlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung - grundsätzlich auch für etwaige Eingriffe in deren Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, denn auch dieses steht gemäß Art. 2 Absatz 2 Satz 3 GG unter einem Gesetzesvorbehalt. Dem steht hinsichtlich der hier zur Prüfung stehenden Zugangsbeschränkung für ungetestete Personen auch nicht der verfassungsrechtliche Wesentlichkeitsgrundsatz entgegen, wonach der Gesetzgeber in allen grundlegenden normativen Bereichen die Ermächtigungsgrundlagen so konkret auszugestalten hat, dass er in Form konkreter gesetzliche Regelungen die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 19. September 2018, BVerfGE 150, 1). Denn unabhängig davon, dass eine Testung nicht mit wesentlichen Grundrechtseingriffen verbunden ist (vgl. dazu unten), ist es insbesondere für v...