Leitsatz (amtlich)

1. Die wiederholte Anordnung der Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB gegenüber einem dort bereits Untergebrachten kommt unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit insbesondere dann in Betracht, wenn das neue Urteil erhebliche Auswirkungen auf Dauer und Ausgestaltung des Maßregelvollzugs haben kann und wenn das Erkenntnisverfahren besser als das Vollstreckungsverfahren dazu geeignet ist, die neue Symptomtat sowie die sich darin widerspiegelnde Gefährlichkeit des Betroffenen für alle an der Maßregelvollstreckung Beteiligten verbindlich festzustellen (im Anschluss an BGH, NStZ-RR 2007, 8; BGHSt 50, 199; BGH, RuP 2010, 57; BGH, NStZ-RR 2011, 41).

2. Erhebliche Auswirkungen auf den Maßregelvollzug sind anzunehmen, wenn die neu vorgeworfene Tat auf eine Steigerung der Aggressivität des Betroffenen und damit seiner Gefährlichkeit hinweist, so dass sie Anlass geben kann, sowohl die Fortdauer der Maßregel zu verlängern als auch deren Sicherungsaspekte zu verstärken, z.B. durch Rücknahme von Lockerungen oder stärkere Isolierung des Betroffenen zum Schutz von Mitpatienten und Bediensteten.

3. Die Durchführung des Erkenntnisverfahrens ist auch dann zur Feststellung einer neu vorgeworfenen Tat erforderlich, wenn diese Tat zwar im Maßregelvollzug begangen wurde, ihr Ablauf aber unklar ist.

Dabei kann es auch von Bedeutung sein, dass sich das Ergebnis des neuen Verfahrens für den Betroffenen für den Maßregelvollzug auch günstig auswirken kann, falls sich nicht feststellen lassen sollte, dass er die neue ihm vorgeworfene Tat - rechtswidrig - begangen hat.

 

Normenkette

StPO §§ 203-204; StGB § 63

 

Verfahrensgang

LG Lüneburg (Entscheidung vom 21.09.2011; Aktenzeichen 27 Ks 9/11)

 

Tenor

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

2. Die Antragsschrift der Staatsanwaltschaft Lüneburg vom 03.08.2011 wird mit der Maßgabe zur Hauptverhandlung zugelassen, dass der Beschuldigte hinreichend verdächtig ist, im Zustand der Schuldunfähigkeit den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB rechtswidrig verwirklicht zu haben, weswegen seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB in Betracht kommt.

3. Im Umfang der Zulassung wird das Hauptverfahren vor einer allgemeinen großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg eröffnet.

4. Die Bestimmung der berufsrichterlichen Besetzung in der Hauptverhandlung bleibt der Strafkammer vorbehalten.

 

Gründe

I. Der Beschuldigte befindet sich in anderer Sache im Maßregelvollzug. Mit Urteil vom 06.02.2003 (24 KLs 105 Js 4349/02) hat das Landgericht Lüneburg seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Dem liegt ein Vorfall vom 13.02.2002 zugrunde, bei dem der an einer chronisch schizophrenen Psychose erkrankte Beschuldigte im Zustand der Schuldunfähigkeit den Hausmeister seiner damaligen Wohnung mit einer durchgeladenen Gaspistole bedrohte. Diesem gelang es, dem Beschuldigten die Waffe zu entwinden. Bei dem dabei entstehenden Handgemenge erlitt der Geschädigte eine blutende Kratzwunde an der Wange und am Hals, was der Beschuldigte billigend in Kauf nahm. Die Strafkammer hat den Vorfall als rechtswidrige Verwirklichung der Tatbestände der Bedrohung und der gefährlichen Körperverletzung qualifiziert. Der Beschuldigte ist seit dem Vorfallstag - zunächst einstweilig - in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Zuletzt hat die zuständige Strafvollstreckungskammer am 06.05.2011 die Fortdauer der Unterbringung angeordnet.

Die Staatsanwaltschaft Lüneburg legt dem Beschuldigten nunmehr mit der Antragsschrift vom 03.08.2011 im Wesentlichen Folgendes zur Last:

Am 15.02.2011 soll er im psychiatrischen Krankenhaus in L. im Zustand schizophreniekrankheitsbedingter Schuldunfähigkeit seinem schlafenden Zimmergenossen mit einer in einem Leinenbeutel verpackten etwa 400 g schweren Konservendose auf den Kopf geschlagen haben, um ihn zu töten. Dies sei fehlgeschlagen, weil es dem Geschädigten, der durch den Schlag erwacht sei, gelungen sei zu flüchten. Dabei soll der Beschuldigte weiter versucht haben, mit der Dose in dem Beutel auf den Geschädigten einzuschlagen und mindestens einen weiteren Treffer erzielt haben. Durch die Schläge soll der Geschädigte eine oberflächliche Schürfwunde und eine Schädelprellung erlitten haben.

Die Staatsanwaltschaft wertet diesen Vorfall tatbestandlich als versuchten heimtückischen Mord (§§ 211, 22, 23 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeugs (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB), mittels eines hinterlistigen Überfalls (Nr. 3) und mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (Nr. 5). Sie betreibt das Sicherungsverfahren mit dem Ziel der wiederholten Unterbringung des Beschuldigten in einem Psychiatrischen Krankenhaus. Wegen der Einzelheiten wird auf die Antragsschrift vom 03.08.2011 und das dortige wesentliche Ergebnis der Ermittlungen Bezug genommen.

Mit Beschluss vom 21.09.2011 hat die 4. große Strafkamm...

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