Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufklärungsrüge. Aufklärungspflicht. Aufklärungsmangel. Schuldfähigkeit. Sachverständiger. Sachkunde. paranoide Schizophrenie. Psychose. Phobie. Aufklärungsmangel bei unterbliebener Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen
Leitsatz (amtlich)
Die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit ist auch dann geboten, wenn der an einer paranoiden Schizophrenie leidende Angeklagte angibt, zur Tatzeit medikamentös eingestellt gewesen zu sein und keine Wahnvorstellungen gehabt zu haben.
Normenkette
StGB §§ 20-21; StPO § 244 Abs. 2
Verfahrensgang
AG Gifhorn (Entscheidung vom 19.09.2023) |
LG Hildesheim (Entscheidung vom 20.12.2023) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hildesheim vom 20. Dezember 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hildesheim zurückverwiesen.
Gründe
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Gifhorn vom 19. September 2023, durch das der Angeklagte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden war, als unbegründet verworfen. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der zulässig erhobenen Aufklärungsrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
Das Landgericht hat davon abgesehen, zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten einen psychiatrischen Sachverständigen zu hören. Das hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
Nachdem das Landgericht festgestellt hat, dass der Angeklagte seit 2013 - und damit auch zum Tatzeitpunkt - an einer paranoiden Schizophrenie leidet, derentwegen er seitdem fortlaufend in ärztlicher Behandlung ist und Neuroleptika als Depotmedikation erhält, gebot die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen. Dies galt hier umso mehr, als der Angeklagte nach dem weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme zum Tatzeitpunkt unter der Einwirkung von Amphetamin und des Neuroleptikums Paliperidon stand, zwischen denen nach dem eingeholten gerichtsmedizinischen Gutachten Wechselwirkungen wahrscheinlich waren.
Zwar gibt es - abgesehen von § 246a StPO - keine allgemeinen Vorgaben, wann das Tatgericht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit einen Sachverständigen hinzuziehen muss oder aufgrund eigener Sachkunde entscheiden kann (vgl. BGH StV 2008, 618). Liegen indes Anhaltspunkte vor, die geeignet sind, Zweifel an der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatausführung zu wecken, so ist die Anhörung eines Sachverständigen in aller Regel geboten; denn derartige Zweifel rufen im Allgemeinen Beweisfragen hervor, zu deren zuverlässiger Beantwortung oft nicht einmal eine allgemeine ärztliche Ausbildung, sondern nur die intensive Arbeit innerhalb eines besonderen Fachgebiets befähigt (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 19; 2007, 83; Becker in: Löwe/Rosenberg, StPO 27. Aufl., § 244 Rn 78 mwN). Solche Anhaltspunkte liegen etwa vor, wenn der Angeklagte in nervenärztlicher Behandlung stand oder steht oder wenn er erklärt hat, dass er an Schizophrenie leide und Medikamente benötige (BGH StV 1982, 54; 2011, 647; Becker aaO mwN). Die Beurteilung endogener Psychosen, zu denen auch die paranoide Schizophrenie gehört, sowie mehrerer belastender Faktoren im Zusammenwirken - wie etwa Drogenkonsum und psychopathische Persönlichkeit - bedarf stets sachverständiger Beratung (vgl. Verrel/Linke/Koranyi in: Leipziger Kommentar, StGB 13. Aufl., § 20 Rn. 236 mwN).
Die Urteilsgründe belegen auch nicht, dass hier trotz des Zusammentreffens mehrerer der vorstehend aufgezeigten Faktoren ein Ausnahmefall vorlag, in dem das Tatgericht über eine besondere Sachkunde verfügte oder aufgrund sonstiger Umstände Auswirkungen der psychischen Störung auf die Tatbegehung von vornherein auszuschließen waren. Solche ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass der Angeklagte angegeben hat, am Tattag "weder Stimmen gehört noch unter Verfolgungswahn gelitten zu haben" (S. 17 UA) und dass der Angeklagte "damals wegen seiner paranoiden Schizophrenie bereits medikamentös behandelt" wurde und dies "nach den Angaben des Angeklagten zu einer Stabilisierung seines psychischen Zustands geführt habe" (S. 17 UA). Denn die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Sachverständigen ist unabhängig von der Selbsteinschätzung des Angeklagten zu beurteilen (vgl. BGHR StGB § 21 Sachverständiger 8). Sie ist bei Vorliegen von Anzeichen, die auch nur eine gewisse Möglichkeit dafür geben, dass der Angeklagte in geistiger Hinsicht von der Norm abweichen könnte, selbst dann geboten, wenn der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung nicht auf einen solchen Zustand beruft (BGH NStZ-RR 2006, 140).
Ungeachtet dessen hat sich der Angeklagte hier ausweislich der Urteilgründe ...