Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit der Vollstreckungsübertragung an einen anderen EU-Staat gegen den Willen des Verurteilten: Vorherige Auslieferung unter der Bedingung einer Rücküberstellung zur Strafvollstreckung
Leitsatz (amtlich)
Gegen den Willen des Verurteilten und ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 85c IRG ist eine Vollstreckungsübertragung an einen anderen EU-Staat selbst dann unzulässig, wenn der Verurteilte von diesem Staat zuvor unter der Bedingung einer Rücküberstellung zur Strafvollstreckung an Deutschland ausgeliefert wurde.
Normenkette
IRG § 85c
Verfahrensgang
LG Hannover (Entscheidung vom 10.06.2015; Aktenzeichen 34 KLs 3352 Js 81458/14 (1/15) |
Tenor
Die Vollstreckung des noch nicht verbüßten oder durch Anrechnung von Haftzeiten erledigten Restes der Jugendstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hannover vom 10. Juni 2015 (34 KLs 3352 Js 81458/14 (1/15)) in Rumänien wird für nicht zulässig erklärt.
Gründe
I.
Der Verurteilte, der rumänischer Staatsangehöriger ist, wurde mit Urteil des Landgerichts Hannover vom 10. Juni 2015 (34 KLs 3352 Js 81458/14 (1/15)) wegen schwerer Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig seit dem 18. Juni 2015. Seither verbüßt der Verurteilte die Jugendstrafe in der niedersächsischen Jugendanstalt H. Die Strafe wird nach derzeitiger Berechnung am 26. Februar 2018 vollständig verbüßt sein.
Der Verurteilung liegen im Wesentlichen folgende von der erkennenden Kammer des Landgerichts Hannover getroffenen Feststellungen zu Grunde: Der ledige und kinderlose Verurteilte wurde am xxx in T. in Rumänien geboren, wo er als ältestes von vier Geschwistern zunächst im elterlichen Haushalt aufwuchs. Im Jahr xxx, als der zur Bevölkerungsgruppe der Roma gehörende Verurteilte dreizehn Jahre alt war, siedelte er gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in die Bundesrepublik Deutschland über. Dort wohnte er durchgängig bei seinen Eltern und seinen Geschwistern in der elterlichen Wohnung, zuletzt im Haus xxx, H. Einen Schulabschluss erlangte er nicht; die deutsche Sprache erlernte er nur sehr eingeschränkt. Nach Beendigung seines Schulbesuchs im Jahr 2012 ging der Verurteilte in Deutschland keiner geregelten Tätigkeit nach, sondern lebte von Zuwendungen seiner Eltern. Wiederholt hielt er sich auch vorübergehend bei Verwandten in Rumänien auf.
Im Frühjahr 2014 entwickelte sich ein Disput zwischen der Familie des Verurteilten und der ebenfalls aus Rumänien stammenden Familie P., weil der zur Familie P. gehörende damals 33 Jahre alte R. ein sexuelles Verhältnis mit der damals 14 Jahre alten Schwester des Verurteilten hatte, wobei die Familie des Verurteilten den R. der Vergewaltigung ihrer Tochter bezichtigte. Weil eine einvernehmliche Beilegung der Streitigkeiten zwischen den Familien nicht gelang, beschloss der Verurteilte, den R. für sein Verhalten gegenüber seiner Schwester abzustrafen. Zu diesem Zweck begab er sich am 21. September 2014 zu einem Kiosk in xxx in H., wo er auf den damals 59-jährigen Vater des R., das spätere Tatopfer P., sowie auf die ebenfalls zur Familie P. gehörenden L. und M. traf. Der Verurteilte, der mit einem Messer bewaffnet war, griff dort zunächst unter Vorhalt des Messers den L. und den M. an und schlug auf diese ein. Daraufhin trat P. an den Angeklagten heran und versuchte, diesen von seinen Angriffen auf L. und M. abzubringen, indem er ihn mit beiden Händen am Hals umfasste. Um sich aus dem Griff des P. zu befreien, schlug der Verurteilte mit dem Griff des in der Hand gehaltenen Messers kraftvoll und wuchtig gegen den oberen Kopfbereich des P., wobei ein Schlag direkt das linke Auge des P. traf. Dieser Schlag hatte zur Folge, dass P. die Sehkraft auf seinem linken Auge dauerhaft verlor. Im Anschluss hieran floh der Verurteilte vom Tatort und kehrte in die elterliche Wohnung zurück. Noch am selben Abend fuhr er zu Verwandten nach B. Kurze Zeit später begab er sich nach Rumänien.
Aufgrund eines Europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Hannover vom 8. Oktober 2014 wurde der Verurteilte am 27. November 2014 in seinem Geburtsort T. in Rumänien festgenommen und in Auslieferungshaft genommen. Mit Urteil vom 9. Dezember 2014 erklärte das Berufungsgericht Bukarest, 1. Strafabteilung, die Auslieferung des Verurteilten zum Zwecke der Strafverfolgung an die Bundesrepublik Deutschland für zulässig. Daraufhin wurde der Verurteilte am 16. Dezember 2014 von Rumänien an Deutschland überstellt und am selben Tage in Deutschland in Untersuchungshaft genommen.
In dem Urteil des Berufungsgerichts Bukarest vom 9. Dezember 2014 heißt es, dass die Auslieferung des Verurteilten unter der Bedingung erfolge, dass der Verfolgte, sofern eine Freiheitsstrafe verhängt werden sollte, zur Vollstreckung der Strafe nach Rumänien zurücküberstellt werde.
Vor dem Hintergrund der mit der Auslieferung des Ver...