Leitsatz (amtlich)

  • 1.

    Zur Abwägung zwischen dem Recht aller Angeklagten auf Aburteilung in angemessener Frist und dem Recht des einzelnen Angeklagten auf Verteidigung durch seinen Vertrauensanwalt bei Auswahl des Pflichtverteidigers und Entscheidungen über den Widerruf der Pflichtverteidigerbestellung.

  • 2.

    Bei weitgehender Verhinderung des beigeordneten Vertrauensanwalts an der Terminswahrnehmung in einem Umfangsverfahren besteht in der Regel keine Verpflichtung einen zusätzlichen weiteren Pflichtverteidiger zu bestellen, vielmehr kommt dann vorrangig die Entpflichtung des Vertrauensanwalts und die Beiordnung eines anderen Verteidigers in Betracht.

 

Tenor

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer - Jugendstrafkammer - des Landgerichts V. vom 13. Mai 2008 wird verworfen.

 

Gründe

Die Gründe des angefochtenen Beschlusses treffen zu. Das Beschwerdevorbringen greift ihnen gegenüber nicht durch.

Zwar gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens, die Wünsche des Angeklagten auf Beiordnung des Verteidigers seines Vertrauens nach Möglichkeit zu berücksichtigen. Ein bindender Anspruch des Angeklagten besteht insoweit jedoch auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht (etwa B. v. 2.3.2006, 2 BvQ 10/06, m.w.N.). Insbesondere ist ein wichtiger Grund für die Ablehnung der Bestellung als Pflichtverteidiger oder deren Aufhebung darin zu sehen, dass der Verteidiger nicht zuzusichern vermag, an der ganz überwiegenden Mehrzahl der vorgesehenen Hauptverhandlungstermine teilzunehmen (BverfG a.a.O.). Denn der Zweck der Pflichtverteidigung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten (vgl. nur MeyerGoßner, StPO, 50. Aufl., Rn. 3 zu § 143 StPO), kann nicht erreicht werden, wenn der Pflichtverteidiger an einem Großteil der avisierten Hauptverhandlungstermine nicht sicher zur Verfügung steht. Das gilt gerade in vorliegendem Verfahren, das gegen sechs Angeklagte gerichtet ist, die sich alle - drei davon in dieser Sache - in Untersuchungshaft befinden und von denen einer zur Tatzeit noch Jugendlicher war. Denn in einem solchen Verfahren kommt den Interessen auch der anderen Angeklagten und dem Beschleunigungsgebot besondere Bedeutung zu. Das Recht der Angeklagten auf Aburteilung in angemessener Frist hat wegen der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts in einer solchen Situation den Vorrang vor dem Recht eines einzelnen Angeklagten auf Verteidigung durch seinen Vertrauensanwalt, so dass ihm nötigenfalls auch durch die Entpflichtung des Ver trauensanwalts Geltung zu verschaffen ist (OLG Hamm StV 2006, 481, 482).

Entgegen der Auffassung des Angeklagten besteht in einer solchen Konstellation auch keine Verpflichtung, den Interessenausgleich dahin vorzunehmen, dem Angeklagten einen zusätzlichen zweiten Pflichtverteidiger beizuordnen. Bereits aus der Regelung des § 143 StPO folgt nämlich, dass regelmäßig die Vertretung des Angeklagten durch einen Verteidiger ausreichend ist. Die Bestellung von mehreren Pflichtverteidigern kann nur ausnahmsweise bei besonderen Umständen geboten sein, die hier offensichtlich nicht vorliegen, weil die Sach und Rechtslage keineswegs besonders schwierig ist, keine besonderen Kenntnisse nötig sind, über die der Vertrauensanwalt in besonderem Maße verfügt, und auch keine aufwendige Einarbeitung erforderlich ist.

Der Angeklagte hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Gegen diese Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 2570866

NJW 2008, 3370

NStZ 2008, 583

StRR 2008, 282

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