Leitsatz (amtlich)

Das Schwurgericht ist nach § 74 Abs. 2 GVG auch dann zuständig, wenn anstelle einer nach Aktenlage in Betracht zu ziehenden Verurteilung wegen Vollrauschs nach vorläufiger Bewertung auch eine Verurteilung wegen eines Kapitaldelikts oder das Anordnen einer Unterbringung jedenfalls nicht auszuschließen ist.

Gerade die in derartigen Fällen regelmäßig schwierige Auseinandersetzung mit rechtsmedizinischen, psychiatrischen und juristischen Grenzfragen erfordert die besondere Erfahrung und Sachkunde des Schwurgerichts. De lege ferenda sollte daher auch das im Vollrausch begangene Kaptaldelikt in den Katalog des § 74 Abs. 2 GVG Eingang finden.

 

Normenkette

StGB § 323a; GVG § 74

 

Verfahrensgang

LG Hannover (Entscheidung vom 01.02.2012; Aktenzeichen 39 Ks 03/12)

 

Tenor

Der Beschluss des Landgerichts Hannover vom 1. Februar 2012 wird unter Verwerfung der weiter gehenden sofortigen Beschwerde der Staatsanwalt schaft aufgehoben.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft Hannover vom 16. Januar 2012 wird zur Hauptverhandlung mit der Maßgabe zugelassen, dass der Angeklagte hinreichend verdächtig ist, einen anderen Menschen getötet zu haben, ohne Mörder zu sein (§ 212 StGB).

Das Hauptverfahren wird vor der 13. großen Strafkammer - Schwurgericht - des Landgerichts Hannover eröffnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie hierdurch veranlasste notwendige Auslagen des Angeklagten fallen der Landeskasse zur Last.

 

Gründe

I. Mit ihrer Anklageschrift vom 16. Januar 2012 hat die Staatsanwaltschaft Hannover dem Angeklagten zur Last gelegt, in der Nacht vom 19. auf den 20. September 2011 in H. nach dem Konsum nicht unerheblicher Mengen Alkohol aus niedrigen Beweggründen einen Menschen getötet zu haben. Konkret wurde dem Angeklagten hierbei zur Last gelegt, er habe dem C. L. einen Schlag gegen den Kopf versetzt, habe das hiernach wahrscheinlich bereits widerstandsunfähige Opfer vollständig entkleidet, habe aus einem dünnen Drahtkleiderbügel oder einem ähnlichen Gegenstand eine gut zuziehbare Drahtschlinge angefertigt und das Opfer hiermit gedrosselt und dem Opfer sodann eine 45 cm lange Schnittverletzung am Rücken sowie eine weitere Schnittverletzung am After zugefügt und sodann einige Meter des Darmes aus der Bauchhöhle des wahrscheinlich bewusstlosen Opfers gezogen und diesen um dessen Körper verschlungen, woraufhin der C. L. schließlich verstarb. Dem Angeklagten sei es bei der Tötung des Opfers hauptsächlich darauf angekommen, einen anderen Menschen auszuweiden.

Die 13. große Strafkammer des Landgerichts Hannover - Schwurgericht - hat mit Beschluss vom 1. Februar 2012 diese Anklage mit der Maßgabe zur Hauptverhandlung zugelassen, dass der Angeklagte hinreichend verdächtig ist, sich vorsätzlich durch alkoholische Getränke in einen Rausch versetzt und in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat - einen Totschlag - begangen zu haben, für die er nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig gewesen oder seine Schuldunfähigkeit nicht auszuschließen ist, und hat die Anklage nunmehr wegen Vollrauschs - vor der großen Strafkammer des Landgerichts Hannover eröffnet. Das Schwurgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen auf das Ergebnis des vorläufigen schriftlichen Gutachtens des psychiatrischen Sachverständigen A. T. vom 7. Januar 2012 gestützt, nach welchem aufgrund der bisherigen Anknüpfungs und Befundtatsachen aufgrund einer erheblichen Alkoholintoxikation des Angeklagten auch eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließbar sei.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde, mit der sie eine Eröffnung des Verfahrens vor dem Schwurgericht erstrebt. Zur Begründung führt sie aus, die Kammer habe sich unkritisch mit dem vorläufigen Gutachten des Sachverständigen T. auseinander gesetzt. eine abschließende Bewertung der dem Gutachten zugrunde liegenden Fragen, insbesondere auch der Frage der Schuldfähigkeit, werde erst im Laufe der Hauptverhandlung möglich sein. Die Generalstaatsanwaltschaft vertritt das Rechtsmittel. Der Angeklagte hatte rechtliches Gehör.

II. Das statthafte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist zulässig und hat auch in der Sache im Wesentlichen Erfolg.

1. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Hannover war nach § 74 Abs. 2 GVG vor der 13. großen Strafkammer des Landgerichts als Schwurgericht zu eröffnen.

a) Die Kammer hat die Entscheidung, die Anklage wegen Vollrauschs vor der allgemeinen großen Strafkammer zu eröffnen, auf die Erwägung gestützt, dass die Tat des § 323a StGB als Vergehen nicht im Katalog des § 74 Abs. 2 GVG enthalten ist. Dies entspricht der in der Kommentarliteratur hierzu einhellig vertretenen Auffassung (LRSiolek, 26. Aufl., § 74 GVG Rn. 8. Kissel/Mayer, 4. Aufl. § 74 Rn. 9. Radtke/HomannRappert, § 74 GVG Rn. 4. KKDiemer, 6. Aufl., § 74 GVG Rn. 2. MeyerGoßner, 54. Aufl., § 74 GVG Rn. 5), die sich ohne weitere Begründung durchgehend auf eine Entscheidung des OLG Stuttgart (MDR 1992, 290) stützt, ...

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