Leitsatz (amtlich)

1. Wird bei der Festsetzung der Bewährungszeit das gesetzliche Höchstmaß überschritten, bleibt ein Widerruf wegen erneuter Straftaten unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes möglich.

2. Ist bei Verurteilung eines Heranwachsenden die Einbeziehung einer nach allgemeinen Strafrecht rechtskräftig abgeurteilten Tat gemäß den §§ 105 Abs. 2, 31 Abs. 2 S. 1 JGG unterblieben, so ist diese durch eine Ergänzungsentscheidung gemäß §§ 109 Abs. 2 S. 2, 66 Abs. 1 S. 1 JGG nachzuholen, und zwar auch dann, wenn beabsichtigt ist, die beiden Sanktionen nebeneinander bestehen zu lassen.

3. Die Ablehnung einer rechtlich möglichen Einbeziehung durch eine Ergänzungsentscheidung nach § 66 Abs. 1 JGG darf nicht stillschweigend erfolgen, sondern ist ausdrücklich durch Beschluss auszusprechen.

 

Normenkette

JGG § 31 Abs. 2 S. 1, § 66 Abs. 1, 1 S. 1, § 105 Abs. 2, § 109 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

LG Stade (Entscheidung vom 05.08.2009; Aktenzeichen 10 BRs 42/06)

 

Tenor

Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 2. großen Strafkammer als Jugendkammer des Landgerichts Stade vom 05.08.2009 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).

 

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil der Jugendkammer des Landgerichts Stade vom 18.05.2006 wegen Beihilfe zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sieben Fällen sowie wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, die Bewährungszeit auf 4 Jahre festgesetzt. Bereits am 09.05.2006 war der Beschwerdeführer durch Urteil des Amtsgerichts Stade wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 6 Monaten verurteilt und auch schon die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe war zur Bewährung ausgesetzt worden. Die Verurteilung vom 09.05.2006 fand in dem Urteil der Jugendkammer vom 18.05.2006 keine Erwähnung. Die Möglichkeit einer Einbeziehung wurde nicht erörtert.

Am 07.05.2008 erkannte das Landgericht Stade gegen den Beschwerdeführer wegen Geiselnahme in Tateinheit mit Körperverletzung auf eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 10 Monaten. Das Urteil ist seit dem 28.01.2009 rechtskräftig. Wegen der erneuten Straftat widerrief die Jugendkammer mit Beschluss vom 05.08.2009 die Strafaussetzung zur Bewährung. Gegen den Widerrufsbeschluss wendet sich der Beschwerdeführer mit der sofortigen Beschwerde.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig (§§ 453 Abs. 2, 311 StPO i. V. m. § 2 Abs. 2 JGG). Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Die Jugendkammer hat die Strafaussetzung zu Recht widerrufen. Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG sind gegeben. Der Verurteilte hat innerhalb der Bewährungszeit eine schwerwiegende Straftat begangen und dadurch gezeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.

Dem Widerruf steht auch nicht entgegen, dass das Landgericht bei der Festsetzung der Bewährungszeit mit 4 Jahren die gesetzliche Obergrenze des § 22 Abs. 1 S. 2 JGG von drei Jahren überschritten hat. Die Rechtswirkungen der Strafaussetzung zur Bewährung, insbesondere die Bedingung einer straffreien Führung, treten mit Aussetzung der Vollstreckung sogar dann ein, wenn überhaupt kein Bewährungsbeschluss erlassen wurde (vgl. OLG Düsseldorf, StV 2008, 512). Eine lediglich fehlerhafte Bestimmung der Bewährungszeit lässt daher die sich aus der Strafaussetzung ergebenden Pflichten und die Möglichkeit zum Widerruf erst recht nicht entfallen.

Die Bewährungszeit begann mit Rechtskraft der Verurteilung zu Jugendstrafe, also am 18.05.2006. Tatzeit der neuen Tat war der 01.04.2007. Zwischen dem Beginn der Bewährungszeit und der Tat lag somit weniger als 1 Jahr. Es kann daher offen bleiben, ob die fehlerhafte Anordnung der Bewährungszeit durch die vom Gesetz vorgesehene höchstmögliche Bewährungszeit oder deren Mindestmaß von 2 Jahren zu ersetzen ist. Die erneute Straftat fällt zweifelsfrei in einen Zeitraum, in dem der Verurteilte unter Bewährung stand.

Allerdings erging der Widerrufsbeschluss erst am 05.08.2009 und damit außerhalb der gesetzlich zulässigen Bewährungszeit. Ein Bewährungswiderruf kann aber auch noch nach Ablauf der Bewährungszeit erfolgen (ganz allg. Meinung, vgl. BGH NStZ 98, 586; Fischer, 56. Auflage, § 56f StGB, Rn. 19 m. w. N.) Er wird aus Gründen des Vertrauensschutzes erst dann unzulässig, wenn die Entscheidung aufgrund von Umständen, die im Verantwortungsbereich der Justiz liegen, ungebührlich lang herausgezögert wurde und bei dem Verurteilten ein schützenswertes Vertrauen darauf entstehen konnte, ein Widerruf werde nicht mehr erfolgen (vgl. OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1997, 254; OLG Celle, NStZ 1991, 206).

Hier ergeben sich keine Anhaltspunkte für ein solches Vertrauen. Die Jugendkammer hat das Widerrufsverfahren nach Recht...

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