Leitsatz (amtlich)
1. Übersendet das Amtsgericht vor Absetzen der Urteilsgründe den Vorgang mit dem die Urteilsformel enthaltenen Protokoll über die Hauptverhandlung der Staatsanwaltschaft unter Bezugnahme auf § 41 StPO, ist darin eine bewirkte Zustellung des Urteils und nicht eine bloße Bitte um Voraberklärung über die Absicht, ein Rechtsmittel einzulegen, zu sehen. Eine nachträgliche Ergänzung des Urteils nach § 77b OWiG ist ausgeschlossen, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits Rechtsbeschwerde durch den Betroffenen erhoben worden ist.
2. Eine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheides an den Verteidiger liegt nicht vor, wenn die Zustellung ausdrücklich an die Kanzlei als solche und ohne jeden namentlichen Hinweis auf den bevollmächtigten Verteidiger erfolgt ist.
3. Ein solcher Zustellungsmangel wird nicht durch die formlose Übersendung des Bußgeldbescheides an den Betroffenen in Verbindung mit der Unterrichtung über die an den Verteidiger veranlasste Zustellung geheilt.
Normenkette
StPO § 41; OWiG §§ 33, 51, 77b
Verfahrensgang
AG Hameln (Entscheidung vom 09.06.2011) |
Tenor
1. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
2. Die Sache wird auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
3. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
4. Das Verfahren wird eingestellt.
5. Die Kosten des Verfahrens und die dem Betroffenen hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Landeskasse.
Gründe
I. Mit Bußgeldbescheid des Landkreises H.P. vom 2. Februar 2011 wurde dem Betroffenen vorgeworfen, am 4. Dezember 2010 um 18:43 Uhr in S. im B. an der Ein/Ausfahrt R. als Führer des Pkw VW, amtliches Kennzeichen xxxxxxxxx, durch Linksabbiegen in engem Bogen gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen und dadurch einen Unfall verursacht zu haben. Es wurde eine Geldbuße von 110 € festgesetzt. Dieser Bußgeldbescheid wurde mittels Postzustellungsurkunde an das "Rechtsanwaltsbüro D. R. G. B." am 7. Februar 2011 zugestellt. In einem beiliegenden Schreiben wies der Landkreis darauf hin, dass dem Betroffenen nachrichtlich eine Abschrift des Bußgeldbescheides übersandt werde. Dem Rechtsanwaltsbüro gehört auch der vom Betroffenen mit der Verteidigung zuvor beauftragte und sich als Verteidiger zur Akte meldende Rechtsanwalt F. an.
Am 14. Februar 2011 ging beim Landkreis H.P. ein vom Betroffenen persönlich unterschriebener Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Über Vermittlung der Staatsanwaltschaft wurde das Verfahren an das Amtsgericht abgegeben, wo es am 6. April 2011 einging. Am 9. Juni 2011 verurteilte das Amtsgericht den anwesenden Betroffenen wegen fahrlässigen Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot zu einer Geldbuße von 110 €. Bereits am 10. Juni 2011 stellte der Betroffene den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Mit Verfügung vom 15. Juni 2011 übersandte das Amtsgericht den Vorgang der Staatsanwaltschaft Hannover "gemäß § 41 StPO", ohne zuvor die Gründe des schriftlichen Urteils abzusetzen. Diese gelangten erst nach Rücksendung des Vorgangs am 5. Juli 2011 zur Geschäftsstelle des Amtsgerichts. Das mit Gründen versehene Urteil wurde dem Verteidiger am 6. Juli 2011 zugestellt. Mit einer am 2. August 2011 bei Gericht eingegangenen Rechtsbeschwerdebegründung rügt der Betroffene die Verletzung des materiellen Rechts und beruft sich darauf, dass der gegen ihn erhobene Vorwurf verjährt sei. Mangels wirksamer Zustellung des Bußgeldbescheides liege ein Verfolgungshindernis vor.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Zulassungsantrag als unbegründet zu verwerfen. Mit Zugang des Schreibens an den Betroffenen sei der Zustellungsmangel geheilt.
II. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Es führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Einstellung des Verfahrens.
1. Die Rechtsbeschwerde war nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zuzulassen, weil es geboten war, die Nachprüfung des Urteils zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Es galt, den im Folgenden dargestellten Rechtsfehlern entgegenzuwirken. § 80 Abs. 5 OWiG stand der Zulassung dabei nicht entgegen, da zum Einen die Zulassung der Rechtsbeschwerde auch wegen eines Rechtsfehlers außerhalb der Verfolgungsverjährung und es zum Anderen gerade wegen dieser Frage geboten war, die Rechtsbeschwerde zuzulassen, um eine Klärung herbeizuführen (vgl. Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 80 Rn. 24).
2. Die sodann nach § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragene Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.
a. Das angefochtene Urteil konnte bereits deshalb keinen Bestand haben, weil das der Staatsanwaltschaft auf richterliche Verfügung am 17. Juni 2011 zugestellte, für die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht allein maßgebliche Urteil entgegen § 71 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 267 StPO keine Gründe enthält. Damit war dem Senat eine Überprüfung auf etwaige Rechtsfehler von vornherein verwehrt. Die Ergänzung durch die am 5. Juli 2011 zu den Akten gelangten schriftlichen Urteilsgründe war unzulässig und konnten damit nicht zum Gegenstand der Prüfung werden.
aa....