Leitsatz (amtlich)
1. Der Zweck der Mitteilungspflicht des § 243 Abs. 4 S. 1 StPO besteht in der Sicherung der Transparenz des Verständigungsverfahrens und der Gewährleistung des Öffentlichkeitsgrundsatzes. Die Pflicht bezweckt nicht die Unterrichtung des Angeklagten über das Bestehen der gesetzlichen Möglichkeit der Verfahrensverständigung als solche.
2. Die Verletzung der Pflicht aus § 243 Abs. 4 S. 1 StPO begründet keinen absoluten, sondern lediglich einen relativen Revisionsgrund.
3. Der Angeklagte hat kein subjektives Recht auf Information über die gesetzliche Möglichkeit der Urteilsabsprache. Ein nicht auf eine Verständigung (§ 257 c StPO) zurückgehendes Urteil kann nicht darauf beruhen, dass der Angeklagte durch den Vorsitzenden über diese Möglichkeit nicht unterrichtet worden ist.
Normenkette
StPO § 243 Abs. 4 S. 1, §§ 257c, 337-338
Verfahrensgang
LG Stade (Entscheidung vom 22.02.2011) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 13. Großen Strafkammer - als Jugendberufungskammer - des Landgerichts Stade vom 22. Februar 2011 wird als unbegründet verworfen (§ 349 Abs. 2 StPO).
Der Angeklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens und die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen des Neben und Adhäsionsklägers zu tragen.
Gründe
I. 1. Der Angeklagte war in erster Instanz durch das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Zeven wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 17 Fällen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 StGB zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten sowie zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 5.000, Euro an den Nebenkläger J. S. verurteilt worden. Gegen dieses Urteil hatten sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, die jeweils erfolglos blieben.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat der Angeklagte in dem Zeitraum von März 2008 bis zum 21. Oktober 2009 im Rahmen der Betreuung seiner beiden Enkelkinder in wenigstens 17 Einzelfällen Missbrauchshandlungen, die auch Oral und Analverkehr beinhalteten, zu Lasten seines seinerzeit vierzehnjährigen Enkels J. S. begangen.
2. Gegen die Verurteilung wendet sich die Revision des Angeklagten mit zwei Verfahrensrügen und der allgemeinen Sachrüge.
a) Die Revision rügt die Verletzung der Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 S. 1 StPO und beanstandet, der Vorsitzende des Berufungsgerichts habe weder mitgeteilt, dass Erörterungen nach §§ 202a, 212 StPO stattgefunden hätten, noch, dass solche Erörterungen nicht stattgefunden hätten. Infolge des Unterbleibens sei dem Angeklagten bis zum 4. Hauptverhandlungstermin am 25. November 2010 die Möglichkeit einer Verfahrensbeendigung im Wege der Verständigung unbekannt geblieben.
Sie vertritt die Rechtsauffassung, § 243 Abs. 4 S. 1 StPO erfordere nicht allein eine Mitteilung über das Führen von Verständigungsgesprächen, sondern auch über ihr Ausbleiben. Die Mitteilungspflicht gelte auch für die Berufungshauptverhandlung.
b) Die Revision beanstandet zudem die Verletzung der §§ 265, 267 Abs. 3 S. 1 StPO, Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG (Willkürverbot) und Art. 6 Abs. 1 EMRK (faires Verfahren). Die entsprechende Verfahrensrüge stützt sich im Kern auf den Umstand, dass der Vorsitzende des Berufungsgerichts im 4. Hauptverhandlungstermin bei einem Geständnis des Angeklagten eine Strafobergrenze von 2 Jahren und 6 Monaten in Aussicht gestellt habe. Die dann tatsächlich verhängte Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 10 Monaten lasse sich weder auf das Fehlen eines Geständnisses des Angeklagten noch auf die Anzahl der weiteren durchgeführten Hauptverhandlungstermine stützen.
c) Die allgemeine Sachrüge begründet die Revision insbesondere mit einer als fehlerhaft bezeichneten Strafzumessung und trägt in diesem Zusammenhang vor, das Berufungsgericht habe es versäumt, sich mit der Strafzumessungsrelevanz des Lebensalters (besondere Strafempfindlichkeit) sowie dem vom Angeklagten unternommenen Suizidversuch näher auseinander zu setzen.
II. Die zulässige Revision bleibt sowohl mit den Verfahrensrügen als auch mit der allgemeinen Sachrüge ohne Erfolg.
1. a) Die Rüge einer Verletzung der Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 S. 1 StPO ist zulässig erhoben, aber nicht begründet.
aa) Dabei braucht der Senat nicht darauf einzugehen, ob die in § 243 Abs. 4 S. 1 StPO normierte, an den Vorsitzenden des zuständigen Gerichts gerichtete Pflicht auch die Mitteilung umfasst, dass im Ermittlungs oder im Zwischenverfahren keine Erörterungen nach den §§ 202a, 212 StPO stattgefunden haben. Der Senat kann auch offen lassen, ob ungeachtet der auf § 243 Abs. 1 StPO begrenzten Verweisung in § 324 Abs. 1 StPO die Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 S. 1 StPO auch für den Vorsitzenden des Berufungsgerichts in der Berufungshauptverhandlung gilt (dafür Weider, in: Niemöller/Schlothauer/Weider, Gesetz zur Verständigung im Strafverfahren, Teil C Rn. 100. MeyerGoßner, StPO, 54. Aufl., 2011, § 324 Rn. 1).
bb) Auf beide Rechtsfragen kommt es nicht an, weil auf dem Unterbleiben der Mitteilun...