Entscheidungsstichwort (Thema)
Kapitalanlageberatung: Bedeutung von Risikohinweisen in Beratungsprotokollen für den Beginn der kenntnisabhängigen Verjährung, Objektgerechte Aufklärung durch rechtzeitige Übergabe des Emissionsprospekts, inhaltliche Anforderungen an die Aufklärungspflichten des Anlageberaters
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Anleger muss sich grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB vorhalten lassen, wenn er die knapp und übersichtlich zusammengefassten Risikohinweise in einem ihm zur Unterschrift vorgelegten Beratungsprotokoll nicht liest.
2. Gleiches gilt, wenn der Anleger nicht bemerkt, dass seine Anlageziele und seine Mentalität in einem Beratungsprotokoll deutlich abweichend vom Tatsächlichen dargestellt sind.
3 Will der Anlageberater den Anleger im Wesentlichen durch die rechtzeitige Übergabe des Emissionsprospekts über die empfohlene Anlage aufklären, darf er im Termin zur Zeichnung der Anlage keinen Anlass für die Annahme haben, dass der Anleger den Prospekt nicht gelesen und verstanden hat.
4. Bei Fehlen konkreter gegenteiliger Anhaltspunkte darf der Anlageberater in der Regel davon ausgehen, dass - nicht nur, aber jedenfalls - ein Hochschulabsolvent in der Lage ist, die Bedeutung eines ihm überreichten Emissionsprospekts zu erkennen, ihn deshalb mit ausreichendem Verständnis wenigstens der wesentlichen Grundzüge zu lesen und andernfalls im nächsten Termin von sich aus Nachfragen zu stellen.
5. Verfügt ein Anleger dem äußeren Anschein nach über besondere wirtschaftliche und juristische Kenntnisse, muss ein Emissionsprospekt zum Zwecke der objektgerechten Beratung nicht volle zwei Wochen vor der Zeichnung der Anlage übergeben werden; es kann dann auch ein kürzerer Zeitraum ausreichen.
Normenkette
BGB § 199 Abs. 1 Nr. 2, § 280 Abs. 1, § 305 Abs. 1, § 309 Nr. 12b; HGB § 172 Abs. 4; ZPO §§ 286, 531 Abs. 2; WpHG §§ 31, 34
Verfahrensgang
LG Hannover (Urteil vom 02.12.2015; Aktenzeichen 11 O 396/13) |
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das am 2.12.2015 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des LG Hannover wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das angefochtene Urteil und dieser Beschluss sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung wegen der Kosten aus dem angefochtenen Urteil und diesem Beschluss durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 % der aufgrund des Urteils und dieses Beschlusses vollstreckbaren Beträge abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Streitwert wird für die Berufungsinstanz auf 124.062,34 EUR festgesetzt.
Gründe
I. Die Klägerin nimmt die Beklagte teils aus eigenem, teils aus abgetretenem Recht mit der Behauptung auf Schadensersatz in Anspruch, diese habe sie, ihren Ehemann und dessen Unternehmen bei insgesamt sechs Kapitalanlagen fehlerhaft beraten.
Wegen des Sach- und Streitstands erster Instanz sowie wegen der erstinstanzlich gestellten Anträge der Parteien wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen (§ 522 Abs. 2 Satz 4 ZPO).
Mit dem angefochtenen Urteil hat das LG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, Schadensersatzansprüche wegen einer etwaigen Verfehlung der Anlageziele der Klägerin bzw. der Zedenten seien kenntnisabhängig verjährt. Die Klägerin bzw. ihr Ehemann hätten die ihnen bei Abgabe der Beitrittserklärungen jeweils zur Unterschrift vorgelegten "persönlichen Beratungsbögen" zur Vermeidung des Vorwurfs fahrlässiger Unkenntnis zwingend lesen müssen. Dann hätten sie anhand der darin aufgenommenen Angaben die Diskrepanz zwischen den von der Klägerin nunmehr behaupteten Anlagezielen und den Eigenschaften der streitgegenständlichen Anlagen bemerkt. Im Übrigen habe sich die Kammer nach Erhebung der angebotenen Beweise nicht davon überzeugen können, dass die Beklagte ihre Beratungspflichten verletzt habe. Insbesondere könne nicht festgestellt werden, dass der Berater B. der Klägerin und ihrem Ehemann die Emissionsprospekte nicht jeweils rechtzeitig vor der Zeichnung übergeben habe. Eine rechtzeitige Übergabe des Prospekts für den Patentfonds ergebe sich sogar aus dem eigenen Vortrag der Klägerin. Der Inhalt der Prospekte sei zur ordnungsgemäßen Aufklärung über die Risiken der Beteiligung auch geeignet gewesen. Die Beklagte sei überdies nicht verpflichtet gewesen, die Klägerin bzw. deren Ehemann darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie für die Empfehlung der streitgegenständlichen Beteiligungen Provisionen erhielt; die Beklagte sei keine Bank, sondern eine freie Anlageberaterin. Auch zur rechtlichen Überprüfung der Wirksamkeit der Widerrufsbelehrungen sei die Beklagte nicht verpflichtet gewesen, weil sie keine Rechtsberatung geschuldet habe. Angesichts eines gemeinsamen liquiden Vermögens der Klägerin und ihres Ehemanns von 400.000 EUR bleibe schließlich der Vorwurf substanzlos, die Beklagte habe nicht für eine ausreichende Diversifizierung der Anlagen gesorgt.
Gegen ...