Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwirkung des Elternunterhalts - unbillige Härte im Sozialhilferecht
Leitsatz (redaktionell)
Anwendung der Härteklausel des § 1611 Abs. 1 BGB sowie der Regelung zur unbilligen Härte gemäß § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII bei der Bestimmung des Elternunterhalts
Normenkette
BGB § 1611 Abs. 1; SGB XII § 94 Abs. 3 S. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
AG Peine (Urteil vom 07.07.2009) |
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten und unter Zurückweisung seines weitergehenden Rechtmittels wird das am 7.7.2009 verkündete Urteil des AG - Familiengericht - Peine geändert und neu gefasst.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 775 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 8.8.2007 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage wird abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen trägt die Klägerin 5/8, der Beklagte 3/8.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die Klägerin macht als örtlicher Sozialhilfeträger aus übergegangenem Recht Elternunterhalt gegen den Beklagten geltend, zu dem dieser ggü. seiner Mutter (der Hilfeempfängerin) verpflichtet ist. Ursprünglich waren 2.176 EUR eingeklagt. Nach einer teilweisen, die Zeit von August 2005 bis Februar 2006 betreffenden Klagerücknahme hat das AG für März 2006 bis Juli 2007 insgesamt 2.049 EUR nebst Verzugszinsen darauf seit dem 8.8.2007 zugesprochen. Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird gem. § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen. Mit seiner Berufung verfolgt der Beklagte die volle Abweisung der Klage.
II. Die Berufung ist zum Teil begründet.
1. Wegfall des Unterhaltsanspruchs
Die Mutter des Beklagten hat ihren Anspruch auf Verwandtenunterhalt (§ 1601 BGB) weder ganz noch teilweise nach § 1611 Abs. 1 BGB verloren. Auch der mit der Berufung geführte Vortrag rechtfertigt nicht die Feststellung, dass die Hilfeempfängerin durch sittliches Verschulden bedürftig geworden, ihre eigene Unterhaltspflicht ggü. dem Beklagten gröblich vernachlässigt oder sich vorsätzlich einer schweren Verfehlung gegen ihn schuldig gemacht hat.
Zwar kann Trunksucht grundsätzlich als sittliches Verschulden im Sinne der vorgenannten Vorschrift in Betracht kommen (vgl. Palandt/Diederichsen, BGB, 68. Aufl., § 1611 Rz. 3). Voraussetzung ist aber weiter, dass die Unterhaltsbedürftigkeit gerade auf diesem Verschulden beruht. Bereits nach dem Vortrag des Beklagten ist dies hier nicht der Fall. Vielmehr beruht die Bedürftigkeit seiner Mutter letztlich auf deren persönlichen Lebensumständen. Diese waren insb. durch die Übersiedlung aus der DDR in die Bundesrepublik schon bald nach der Geburt des Beklagten im Jahr 1953, die bereits während dessen Kindheit bestehende Sozialhilfebedürftigkeit, den frühen Tod des ersten Ehemannes und die Wiederheirat sowie dadurch geprägt, dass die Hilfeempfängerin entsprechend der damals verbreiteten gesellschaftlichen Rolle einer Ehefrau keine selbständige wirtschaftliche Lebensstellung durch Erwerbstätigkeit aufgebaut hat. Dazu, ob sie dazu aufgrund ihrer persönlichen Voraussetzungen überhaupt eine reale Chance hatte, fehlt hinreichender Vortrag. Deshalb kann dahinstehen, ob der Alkoholkonsum der Hilfeempfängerin tatsächlich ein solches Ausmaß angenommen hat, dass von einem sittlichen Verschulden auszugehen ist.
Unter den vorgenannten Umständen ist auch nicht festzustellen, dass die Mutter des Beklagten ihre Unterhaltspflicht ihm ggü. gröblich vernachlässigt hat. Dies folgt insb. nicht ohne weiteres daraus, dass der Beklagte 1969 nach der Wiederheirat seiner Mutter nicht mit dieser zu deren neuem Ehemann nach B-V gezogen sondern in den Haushalt seiner Großeltern gewechselt ist.
Schließlich kann der Entscheidung auch nicht zugrunde gelegt werden, dass die Mutter des Beklagten sich ihm ggü. einer schweren Verfehlung schuldig gemacht hätte. Der pauschale Vortrag, sie habe ihn ständig geschlagen, genügt dafür nicht. Die Berufungserwiderung wendet zutreffend ein, dass im Gegensatz zum heutigen Verständnis in der Kindheit und Jugend des Beklagten körperliche Züchtigung in gewissem Umfang gesellschaftlich allgemein toleriert war und deshalb nicht von vornherein ein persönliches Verschulden im Sinne einer sittlich-moralischen Verwerflichkeit begründet. Auch der Vortrag des Beklagten, seine Mutter habe während der Schwangerschaft mit ihm einen fehlgeschlagenen Abtreibungsversuch unternommen und er sei deshalb behindert (Verkümmerung einer Niere und Fehlen des rechten Daumens) geboren worden, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Klägerin hat diesen Vortrag bestritten und sich auf die ausführliche, durch die Betreuerin schriftlich niedergelegte Erklärung der Hilfeempfängerin vom 20.9.2006 berufen. Der Beklagte stützt sich dagegen allein auf das Zeugnis seiner Schwiegermutter R K und stellt in deren Wissen, seine Mutter habe dieser 1973 oder 1974 in einem Telefongespräch von einem solchen Abtreibungsversuch erzählt und dabei die Vermutung geäußert, darauf seien die Behinderungen zurückzuführen. Ohne den Vortrag tat...