Entscheidungsstichwort (Thema)

Haftungsverhältnis aus erhöhter Betriebsgefahr eines landwirtschaftlichen Fahrzeugs mit Überbreite und großer Masse im Verhältnis zum Verschulden eines Pkw-Fahrers wegen Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot; Berücksichtigung einer fehlenden Ausnahmegenehmigung nach § 70 Abs. 1 StVZO im Rahmen der Haftungsabwägung.

 

Leitsatz (amtlich)

1. Kann ein Fahrzeug mit Überbreite, das bereits den Grünstreifen neben der Fahrbahn mitbenutzt, wegen Alleebäumen nicht noch weiter rechts fahren, ist ein der Überbreite geschuldetes gleichzeitiges Überfahren der (gedachten) Mittellinie der Fahrbahn nicht vorwerfbar.

2. Eine fehlende Ausnahmegenehmigung nach § 70 Abs. 1 StVZO ist im Rahmen der Haftungsabwägung nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 3 StVG nicht zu berücksichtigen, weil die Norm nicht dem Individualrechtsschutz anderer Verkehrsteilnehmer dient und deshalb ein Unfall bzw. der Unfallschaden außerhalb des Schutz-zwecks der Norm liegt.

3. Kommt es im Begegnungsverkehr auf einer gerade verlaufenden Straße ohne Fahrbahnmarkierungen bei Tageslicht zu einer Kollision zwischen einem landwirtschaftlichen Fahrzeug mit Überbreite, das so weit nach rechts gesteuert wird, wie es tatsächlich möglich ist, mit einem Pkw, der die Fahrbahnmitte grundlos leicht überschreitet, so tritt die Haftung aus Betriebsgefahr für das landwirtschaftliche Fahrzeug nicht zurück, sondern fließt mit 30 % in die Haftungsquote ein.

 

Normenkette

StVG §§ 7, 17 Abs. 1-2, § 18 Abs. 3; StVO § 2; StVZO § 70 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Lüneburg (Urteil vom 06.03.2020; Aktenzeichen 1 O 37/18)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das am 06. März 2020 verkündete

Urteil der Einzelrichterin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg - 1 O 37/18 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Das Urteil und das vorgenannte Urteil des Landgerichts Lüneburg sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 4.746,86 EUR festgesetzt.

 

Gründe

(gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO)

I. Der Kläger macht Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend, bei dem er verletzt und sein Fahrzeug beschädigt wurde.

Am Unfalltag, dem 19. Juli 2017, kam es auf der Ortsdurchfahrt in ... E. im Begegnungsverkehr zur Kollision zwischen dem VW Golf V mit dem amtlichen Kennzeichen ..., dessen Halter, Eigentümer und Fahrzeugführer der Kläger war, und dem vom Beklagten zu 2) geführten, bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Feldhäcksler mit dem amtlichen Kennzeichen ... Der Kläger fuhr vor der Kollision hinter einem Kleintransporter, der - wie auch weitere Fahrzeuge - das Beklagtenfahrzeug ohne Kollision passierten. Der genaue Unfallhergang ist streitig.

Bei dem Feldhäcksler handelt es sich um ein landwirtschaftliches Fahrzeug mit Überbreite (3,45 m), für dessen Zulassung und Betrieb eine Ausnahmegenehmigung nach § 70 Abs. 1 StVZO erforderlich ist, die am Unfalltag nicht mehr vorlag.

Die Beklagte zu 1) zahlte vorprozessual im Hinblick auf die Betriebsgefahr des Häckslers pauschal einen Betrag von 1.800,- Euro an den Kläger.

Die Parteien streiten vor allem um die Haftungsverteilung. Der Kläger hat erstinstanzlich insbesondere geltend gemacht, der Unfall sei für ihn unvermeidbar gewesen, weil er das Beklagtenfahrzeug, das wegen seiner Überreite über die Fahrbahnmitte gefahren sei, wegen des Transporters vor ihm nicht habe wahrnehmen und wegen Bäumen am Fahrbahnrand nicht nach rechts habe ausweichen können; er sei mittig auf seiner Fahrspur gefahren. Es hat gemeint, die Beklagten treffe das ausschließliche Verschulden. Die Beklagten haben insbesondere geltend gemacht, der Beklagte zu 2) habe bereits den rechten Grünstreifen mitgenutzt, und der Kläger sei hinter dem Kleintransporter ausgeschert, offenbar um den Gegenverkehr zu beobachten und den Kleintransporter zu überholen; der Kläger müsse sich sein Fehlverhalten zurechnen lassen, während auf ihrer Seite lediglich eine Betriebsgefahr zu berücksichtigen sei.

Gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO wird hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen, des weiteren Vorbringens der Parteien und der erstinstanzlichen Anträge auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Mit am 6. März 2020 verkündeten Urteil hat das Landgericht nach informatorischer Anhörung des Klägers und des Beklagten zu 2) sowie Beweiserhebung durch Zeugenvernehmung und Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang der Klage unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 60 : 40 zu Lasten des Klägers und mit weiteren Einschränkungen zur Schadenshöhe teilweise stattgegeben. Zur Begründung führt das Landgericht im Wesentlichen Folgendes aus: Der Unfallschaden sei von dem Häcksler zu 40% und dem VW Golf des Klägers zu 60% verursacht worden. Dem Beklagten zu 2) sei ein Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO vorzuwerfen, weil eine gefahrene Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h keine ausreichend geringe Geschwindi...

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